Höllenfahrt eines Herrschers Die Pest kam, der Regen nicht

Mit einer dichten Erzählweise, großen Schauspielern, spannenden Bildern und einer überzeugenden Ensemble-Leistung, die auch Chor und Komparserie auf hohem Niveau mit einbezieht, begeistert die Produktion "König Ödipus" bei den Antikenfestspielen. Ein Wunder, dass das Festzelt bei der Premierenfeier nicht abhob: Alle Beteiligten schwebten nach der trocken über die Runden gebrachten Vorstellung einen Meter über dem Boden. Allen voran der Intendant.

Trier. Man weiß gar nicht genau, wann sie anfängt, die Höllenfahrt des Ödipus. Der Moment, in dem er zu zweifeln beginnt. Der Gedanke, der aus einem souveränen, von seinem Volk wie ein Heilsbringer verehrten Herrscher ein Nervenbündel werden lässt. Die Sekunde, in der er ahnt, dass der Verdacht, er könne - ohne es zu wissen - seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet haben, mehr ist als die anfangs vermutete politische Intrige.Ab diesem Moment ist er auf der abschüssigen Bahn, ist sein Schicksal besiegelt. Da geht es nicht mehr um Schuld und Sühne, um Politik und Psychologie, um Recht und Macht - da waltet das unentrinnbare Geschick mit der gleichen elementaren Wucht, mit der Michael Marwitz seine Rolle spielt. Protokoll einer menschlichen Tragödie

Regisseur Horst Ruprecht verzichtet im Kern seiner Geschichte auf jedwede Überfrachtung, auf Dekonstruktion und Tiefenpsychologie. Er zeichnet das Protokoll einer menschlichen Tragödie, die möglich wird, weil alle um Ödipus herum Meister der Lüge und des Verschweigens sind: Die Adoptiv-Eltern, die ihm trotz seiner Fragen die wirkliche Herkunft verschweigen, sein Schwager Kreon (markant: Peter Singer), der seinen strategischen Vorteil im Auge hat, der Hirte (Hans-Peter Leu), der ihm einst das Leben rettete, selbst der blinde Seher Teiresias (imposant: Michael Ophelders), der erst unter Druck seine düsteren Geheimnisse preisgibt. Und natürlich, vor allen, Iokaste, seine Mutter und Ehefrau, von Johanna Liebeneiner überzeugend als Königin der Verdrängung verkörpert, die sich lange weigert, die Realität auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, Konsequenzen daraus zu ziehen.Szene für Szene wird Ödipus zum Außenseiter

 Geschafft, aber zufrieden: Johanna Liebeneiner und Michael Marwitz in „zivil“ bei der Premierenfeier. TV-Foto: Ludwig Hoff

Geschafft, aber zufrieden: Johanna Liebeneiner und Michael Marwitz in „zivil“ bei der Premierenfeier. TV-Foto: Ludwig Hoff

Ödipus, "das gewaltig' Haupt", um den sich am Anfang alle reißen, den zu berühren man sich drängt, wird Schritt für Schritt, Szene um Szene zum Außenseiter. Am Ende sind es nur noch seine Kinder, die seine Nähe aushalten.Die Inszenierung ist durchwirkt mit solchen Sinnbildern. Sie winkt nicht mit Moral, sie wirft Schlaglichter. Auf das unter der Pest leidende Volk beispielsweise, das einerseits für die von Ödipus als öffentliches Spektakel inszenierte Verhandlung als Staffage gebraucht wird, andererseits aber hinter Absperrgittern verharren muss, ohne wirklich eingreifen zu können. Kennt man das nicht?Regisseur Ruprecht und Kostümbildnerin Carola Vollath brechen gerne mit Anspielungen oder aktuellen Apercus die Tragödie. Der Bote (Manfred-Paul Hänig) kommt etwa mit Walking-Stöcken daher, der Chor trägt den Schriftzug "OE" auf dem Rücken. Als Vorspiel gibt es gar unterhaltsam und ironisch in Szene gesetzte Götter-Oden von Homer. Aber die Neben-Pointen überlagern nie den Gehalt der Geschichte.Das hängt auch mit der handwerklichen Exzellenz zusammen, die die gesamte Produktion auszeichnet. Da müssen 70 Komparsen sekundenbruchteilgenau und auf einem Atem in die Handlung eingreifen, da ist das Trierer Schauspiel-Ensemble als anspruchsvoller Chor (Chorführer: Klaus Michael Nix) gefragt, und schafft es sogar, Laien zu integrieren. Da gelingen Carola Vollath eindrucksvoll-zeitlose Kostüme, bei denen das Grau des pestkranken Volkes mit dem Rot der Herrschenden kontrastiert wird. Und da verdienen, was sonst in Besprechungen eher selten vorkommt, die großartigen Masken (verantwortlich: Rüdiger Erbel) eine besondere Erwähnung.Das Herz der Produktion bleibt freilich ihr Hauptdarsteller. Michael Marwitz ist ein Bühnen-Tier, von der selbstsicheren Herrscher-Pose zu Beginn über den ruhelosen Wahrheits-Forscher bis zum Schmerzensmann in Piéta-Pose am Ende. Keine verkopfte Analyse, sondern kraftvolles Körpertheater, manchmal an der Schmerzgrenze. Unterm Strich ein starker Abend vor ausverkauften Tribünen, von denen aus anhaltender Beifall gespendet wurde. Ein Plädoyer auch für das klassische antike Schauspiel als Bestandteil der Antikenfestspiele. Weitere Vorstellungen: 6., 7., 13. Juli. Info: www.dont-kill-daddy.de. Karten: 0651/7181818. Trier. (DiL) "Wir danken dem Wettergott", rief Gerhard Weber ausgelassen und winkte mit windmühlenartigen Armbewegungen die Hauptakteure nach vorn. Aber die waren, erschöpft vom schweren Auftritt, froh, dass sie nichts sagen mussten.Regisseur Horst Ruprecht zog in einer ungewohnten Rolle als Rosenkavalier um die Stehtische - die Sitzplätze waren wenig gefragt, möglicherweise, weil den Besuchern die eigene Sitzfläche noch von den engen Schalen auf der Tribüne schmerzte. Ruprecht hatte seinen größten Auftritt bereits früh am Abend: Nachdem der Intendant die Vorstellung feierlich eröffnet hatte, passierte erst lange nichts, dann kam der Regisseur gemessenen Schrittes aus der Dekoration und wanderte seelenruhig quer über die Bühnen-Fläche. Das Publikum, das zunächst einen moderne Inszenierungs-Gag vermutet hatte, spendete spontan Szenenbeifall.Überhaupt kam die Produktion bei den Zuschauern gut an. OB Klaus Jensen war des Lobes voll, trat aber "nach einer 100-Stunden-Arbeitswoche" lieber vor der After-Show-Party den Heimweg an. Anerkennende Worte auch vom langjährigen Organisator des Antikensymposiums, Professor Hartmut Köhler. Aus der fachlichen Sicht des klassischen Philologen attestierte sein Kollege, Professor Georg Wöhrle, der Inszenierung eine "plausible Sichtweise der Antike". Bühnenbauer Francois Valentiny war erfreut, zum ersten Mal bei diesen Festspielen den Schlussbeifall in seinem allseits bewunderten Ambiente zu erleben. Aber der Luxemburger schwebte längst wieder in neuen Gefilden: Man müsse für die Festspiele auf Dauer "eine Lösung finden, die die Frage der Witterung in die Produktion einbindet".

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