Volksfreund-Geschichtsserie: Gottes wechselnde Wohnstatt

Kirchen gehören zu unserem Alltag. Sie sind Orte des Glaubens und zugleich Zeitzeugen unserer Geschichte. Vor mehr als 1200 Jahren begann mit dem mittelalterlichen Kaisertum auch die Bauzeit der Romanik und Gotik.

Am Weihnachtstag des Jahres 800 wird in Rom ein Franke zum Kaiser gemacht: Karl der Große empfängt im Petersdom von Papst Leo die Insignien der Macht. Es ist ein Wendepunkt in der Geschichte. Seit Konstantin dem Großen gab es keinen weströmischen Kaiser mehr. Mit Karl kehrt die Herrschaft der Kaiser wieder. Damit einher geht nicht nur die Gründung des mittelalterlichen Kaisertums. Fortan existiert auch eine enge, freilich an Konflikten reiche Verbindung zwischen Kirche und Staat. Der neue Kaiser ist Christ und vom Christentum legitimiert. Die Religion wird zur zweiten dominanten Instanz in Politik und Gesellschaft. Sie bildet eine Parallelhierarchie, die vom Papst über die Kardinäle bis zu Pfarrern und Mönchen reicht. So wird das Christentum zur bestimmenden Größe der kulturellen Entwicklung in Europa.
Kulturgeschichte der Menschheit



Eine frühe Kulturepoche dieser Entwicklung ist die Romanik - ein Begriff, den französische Historiker des 19. Jahrhunderts ins Spiel brachten. Die Bezeichnung Romanik - vom Französischen romanesque - ist ein Hinweis auf die Verwandtschaft zur römischen Architektur mit ihren Rundbögen und ihrem Gewölbebau, ihren Pfeilern und Säulen. Mit Romanik wird allgemein die Architektur des Mittelalters vom 8. bis zum 13. Jahrhundert bezeichnet, genauer unterschieden in Frühromanik, Hochromanik und Spätromanik.

Inseln der Zivilisation:
Die frühe Romanik wurde wesentlich von Klostergemeinschaften geprägt, die seit der Spätantike überall in Europa entstanden. Die Benediktiner waren die Ersten, die sich im 6. Jahrhundert hinter Mauern zurückzogen und ihr Leben Gott überschrieben. Ihnen folgten immer neue Orden: die Kartäuser, die Zisterzienser, die Augustiner - um nur drei weitere zu nennen. Ihre Klöster waren Inseln der Zivilisation. Nicht nur, weil dort Heilmittel und die Kunst des Bierbrauens entwickelt wurden. Die gottesfürchtigen Mönche retteten auch den Großteil dessen, was wir heute über die Antike wissen. Klöster waren unermüdliche Schreibstuben, in denen die Manuskripte der Menschheitsgeschichte aufbewahrt und kopiert, neue Texte angefertigt und kunstvoll verziert wurden.

Wie ein Wunder:
Ohne die Bautätigkeit der Orden wäre die Romanik nicht möglich gewesen, denn die größeren frühen Kirchen befanden sich vielfach auf dem Gelände der Klöster. Als Ort des Gebets und der Liturgie waren sie in erster Linie den Priestern und Mönchen vorbehalten. Die Gläubigen des Umlandes fanden nur an den hohen christlichen Feiertagen hierher. Ein Kirchbesuch zu solchen Anlässen muss den Menschen von damals wie ein Wunder vorgekommen sein.

Ästhetik trifft Statik:
Durch ein Rundbogenportal betraten sie einen mächtigen, klar umgrenzten Baukörper. Festungsartig waren seine Mauern, die Lichtdurchlässe schienen wie herausgeschnitten aus dem Stein. Säulenreihen trennten den großen Mittelteil (Hauptschiff) von den beiden Seitenbereichen (Seitenschiffe). Kreuzgratgewölbe und Rundbögen bestimmten das Innere. Sie verbanden Ästhetik mit Statik, denn die Bogenform gab die Kraft des Baus nach unten weiter und machte es möglich, größere Räume zu überspannen. Dämonen und biblische Gestalten bevölkerten die Verbindungsstücke zwischen Säulen und Gewölbe. Der Bau strahlte Monumentalität und feierliche Strenge aus. Er war beeindruckend. Und noch stark der Antike verbunden. Denn tatsächlich nutzten die Klöster im frühen Mittelalter die Form der römischen Basilika als Vorlage für ihre Sakralbauten. Das Audienzgebäude der Kaiser, das auch als Markt- und Gerichtshalle genutzt wurde, eignete sich hervorragend, um Würde zu signalisieren.

Gotik beginnt in den Städten: Die Romanik war eine rückwärtsgewandte Epoche. Die neuzeitliche Kultur aber entstand in den Städten. Dort versammelte sich etwa im Hochmittelalter eine neue Gesellschaft. Handwerker und Händler formten die ersten Städte und Stadtbünde. Eine wachsende Zahl von ihnen war frei, verwaltete sich also selbst. Und in den großen Stadtgemeinden begann das, was wir heute als Gotik kennen. Hier entstanden mutige Gegenentwürfe zu den Sakralbauten der Romanik. In Chartres und Reims, in Köln und Straßburg wuchsen Kathedralen aus Spitzbögen und gebündelten Pfeilern in den Himmel. Es war, als würde der Stein die Erdenschwere hinter sich lassen. Als könne er, geformt aus Menschenhand, mühelos ins Unendliche wachsen. Das Zeitalter der Gotik war angebrochen.

Bauboom in Europa:
Ihren Ausgang nahm sie in Frankreich - ein Jahrhundert später sollte sie auch im deutschsprachigen Raum die Romanik ablösen. Französische Baumeister errichteten im 12. Jahrhundert erste Kirchen im frühgotischen Stil, zum Beispiel die 1130 erbaute Abteikirche von Saint-Denis in Paris. Es folgte ein regelrechter Bauboom. Überall in Europa entstanden zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert Meisterwerke der Gotik. Zu den bekanntesten Kathedralen zählen der Kölner Dom, die Kathedrale Notre-Dame von Reims - über Jahrhunderte wurden hier Frankreichs Könige gekrönt - oder die Kathedrale von Canterbury, bis heute Krönungsort der englischen Herrscher.

Ort des öffentlichen Lebens:
Im Kloster waren die Kirchen den Mönchen vorbehalten - in der Stadt wurden sie zum Ort des öffentlichen Lebens. In ihrem Inneren fanden Versammlungen statt, Verhandlungen, Theaterstücke. Pilger kamen in Scharen, um die in den Kathedralen aufbewahrten Reliquienschätze zu besuchen und anzubeten. Um dem Ansturm der Menschen Herr zu werden, brauchte es mehr Platz und eine kluge Logistik: Die Baumeister der Gotik erfanden das selbstständige Tragesystem aus Strebepfeilern, Spitzbögen und Kreuzrippengewölbe.

Hohe Glasfenster:
Musste in der Romanik eine massive Wand noch die Last des Gebäudes tragen, wurden die Druckkräfte nun auf eine Art Wandskelett verteilt. Die tragenden Elemente befanden sich im Außenbau, im Innenraum entstand eine neue Luftigkeit. Statt auf massive romanische Wände blickte der Kirchgänger auf hohe, mit bunten Motiven ausgefüllte Glasfenster. Der Mensch konnte durch die großen Fenster einen Blick in den Himmel werfen und soll so die Einheit von geschaffener und himmlischer Welt erleben. Auch logistisch waren gotische Kathedralen eine Meisterleistung: Um der wachsenden Zahl von Pilgern beizukommen, wurden die Seitenschiffe zum Chorumgang verlängert. So leitete man sie von einem Seitenschiff vorbei am Altar mit der Reliquie und zum anderen Seitenschiff wieder hinaus.

Auf Gotik folgt Renaissance:
Während die Gotik in Mittel europa noch bis ins 16. Jahrhundert andauerte, läutete Italien schon um 1420 die Renaissance ein - die Wiedergeburt der Antike. Während im Norden noch Steingebirge in die Vertikale strebten, orientierten sich die Künstler im Süden wieder an den Vorbildern altrömischer und -griechischer Baukunst. Die Gotik war ihnen regelrecht verhasst. Im Andenken an die Goten, die maßgeblich am Untergang des Römischen Reiches beteiligt waren, prägte der italienische Renaissancekünstler Giorgio Vasari im 16. Jahrhundert den Begriff "maniera tedesca" (deutscher Stil) beziehungsweise auch "maniera de Goti" (gotischer Stil). Damit wollte er seine Geringschätzung der mittelalterlichen Kunst nördlich der Alpen zum Ausdruck bringen.

Späte Wiedergeburt:
Doch der Zeitgeist wandelt seinen Geschmack häufig. Auch die Gotik sollte ihre Wiedergeburt erleben. Diese kam im 19. Jahrhundert in Form der Neugotik. Und hob den spektakulärsten Baustopp der deutschen Geschichte auf: Der Kölner Dom, im Mittelalter als Kathedrale gotischen Stils begonnen, wurde nach Jahrhunderten endlich vollendet.

Lesen Sie in der nächsten Folge: Stadtluft macht frei - Über die Städtebildung im Mittelalter
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Extra

Prächtige Perikope: Die Geschichte der Romanik ist auch die Geschichte der Buchkunst. Die Schreib- und Buchmalstätten der Klöster haben während der Romanik einige der berühmtesten Werke der Buchkunst hervorgebracht - darunter auch das von Kaiser Heinrich II. in Auftrag gegebene Perikopenbuch. Es entstand vermutlich kurz nach der Wende zum 2. Jahrtausend im Kloster Reichenau. Der Kaiser ließ sich in die prachtvolle Bebilderung mithineinmalen. "Perikope" kommt aus dem Griechischen und bedeutet Verkürzung, was in diesem Fall heißt: Die Bibel wird auf die Textstellen reduziert, die vom Leben Jesu erzählen. Das Perikopenbuch Heinrich II. zählt heute zum Weltdokumentenerbe.
Das Blau von Chartres: Bis heute ist das Geheimnis der Kirchenfenster von Notre Dame de Chartres (Foto: dpa) nicht restlos aufgeklärt. 176 Fenster sind es, die Licht ins Innere der gotischen Kathedrale lassen. Sie tauchen den Kirchenraum in ein einzigartiges Licht - das "Blau von Chartres". Das Besondere: Unabhängig von der Sonnenstärke strahlen sie immer gleich intensiv - als ob sie aus sich selbst heraus leuchten würden. Wie die gotischen Glaser diesen Effekt erzielen konnten, darüber rätseln Wissenschaftler bis heute. Fest steht nur: In den Fenstern ist Kobalt aus dem Erzgebirge verarbeitet.

Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Angelika Koch im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V., Telefon: 02661/6702, Info: www.marienberger-akademie.de

Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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