Folge 20: Eine neue Macht erwacht: Die Liebe

Seit der Romantik gilt Liebe als wichtigste Bedingung für eine glückliche Paarbeziehung. Doch es war ein sehr weiter historischer Weg, bis Trieb, Herz und Verstand sich zur uns bekannten Liebe verbunden hatten.

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Um das Jahr 1595 schrieb der englische Dramatiker William Shakespeare ein Theaterstück, das zur berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten werden sollte: "Romeo und Julia". Das Stück schildert Vorgänge, die der Mehrzahl damaliger Zeitgenossen ungeheuerlich vorgekommen sein müssen: Getrieben allein vom Gefühl der Liebe, setzen sich zwei junge Leute kompromisslos über Normen, Sitten und Gebräuche ihrer Gesellschaft hinweg.
Kulturgeschichte der Menschheit


Dass ihre Familienclans in Verona bis aufs Blut verfeindet sind, hält Romeo und Julia nicht voneinander ab. Den Eltern verweigern sie den Gehorsam; Julia entzieht sich durch Flucht in die Arme Romeos den Plänen ihres Vaters zur wohlfeilen Zwangshochzeit mit einem andern. Quasi nur Stunden nach ihrer Erstbegegnung verheiraten die Liebenden sich heimlich und gehen miteinander ins Bett. Die beiden interessieren sich nicht im geringsten für die damals allgemein wichtigste Frage an die Ehe: Ist eine bestimmte Verbindung von materiellem und sozialem Vorteil und/oder verspricht sie zweckmäßige Lebenstüchtigkeit? Die pure Liebe des Shakespeare\'schen Paares behauptet sich gegen familiäre wie obrigkeitliche Verfolgung und erweist sich schließlich sogar stärker als der Tod.

Mächtigstes Bindeglied:
Die Geschichte von Romeo und Julia führt das Liebesgefühl als eine Kraft vor, die sämtlichen Widrigkeiten des gewöhnlichen Lebens trotzt. Liebe, so die Behauptung, sei das mächtigste Bindeglied zwischen zwei Menschen. Mit diesem auf die Paar-Bildung und nicht zuletzt auch auf die Ehe gerichteten Liebesideal war Shakespeare der gesellschaftlichen Norm seiner Zeit weit voraus. Er nahm gewissermaßen den romantischen Gefühlsidealismus vorweg, der sich ab dem späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert ausbreitete.

Nicht immer selbstverständlich:

Diese historisch neue Art von Liebe, die sich mit "Romeo und Julia" am Horizont andeutete, gilt inzwischen längst als primäre Bedingung für erfüllte Zweisamkeit und Eheglück. Seit zwei Drittel der jüngeren Weltliteratur und nachher auch eine erdrückende Mehrzahl aller Spielfilme die romantische Liebe als wichtigste Essenz der Paar-Bildung idealisieren, erscheint sie uns wie eine dem menschlichen Wesen seit jeher innewohnende Naturgewalt. Tatsächlich aber handelt es sich bei Liebe vor allem um ein Kulturphänomen, das in unterschiedlichen Epochen jeweils anders ausgeprägt ist.

Animalischer Sexualtrieb:
Die menschliche Frühgeschichte kannte keine Liebe im romantischen Sinn. Zunächst war da über Jahrzehntausende nur der animalische Sexualtrieb, der zur körperlichen Vereinigung und zur Kindszeugung führte - ohne dass damit zwangsläufig die Bildung fester, gar lebenslanger Paare einherging. Wobei bereits Shakespeare in "Romeo und Julia" wie in vielen anderen seiner Stücke nie einen Hehl daraus machte, dass er in sexueller Begierde und ihrem Vollzug einen Grundzug des Menschlichen sieht, dem er einen wichtigen Anteil an der Macht der Liebe zumisst.

Goethes "Werther":
Der Begriff "Love" (Liebe) schließt bei Shakespeare stets fleischliche Begierde mit ein. Das, sowie die Zweck- und Normfreiheit seines Liebesbegriffs unterscheidet ihn erheblich vom Ideal der platonischen, außerehelichen "hohen Minne" vorausgegangener Jahrhunderte (wie sie in Folge 19 unserer Serie behandelt wurde). Doch es führt nun historisch keine direkte Linie von Shakespeare etwa zum jungen Werther -zu jener Figur, die sich im 1774 erschienenen Roman aus Liebeskummer die Kugel gab und ihren Erfinder Goethe schlagartig berühmt machte. In diesem, dem 18. Jahrhundert, überstürzten sich diverse Zivilisations- und Kulturentwicklungen, die auf sehr unterschiedliche Art das Liebesverständnis prägen sollten.

Das Ideal der Freundschaft:
Das erstarkende Bürgertum und die vernunftbetonte Weltsicht der aufkommenden Geistes- und Wissenschaftsepoche der Aufklärung konnten nicht mehr viel anfangen mit dem vergeblichen Seufzen, Schwärmen, kniefälligen Umwerben der höfischen Minne. Das war vielen damaligen Zeitgenossen ebenso suspekt und weltfremd wie die Irrationalität der Liebe bei Romeo und Julia. Weil aber auch der Mensch dieser Zeit nicht ohne zwischenmenschliche Herzlichkeit auskommt, kam ein neues Ideal zu hohem Ansehen: die Freundschaft. Sie trat dem rationalen Geschäfts- und Wissenschaftssinn in teils ziemlich exaltierte Form zur Seite: Freunde überschütteten sich mit tausend Küssen, fielen einander in die Arme, schworen sich dauerhafte Verbundenheit ...

Der Vater wählt aus:
Was die Ehe jener Zeit angeht, so galt das althergebrachte Prinzip der Gattenauswahl durch die Eltern (Väter) und der Schichtengleichheit der Eheleute weiter als "vernünftig". Doch färbte zugleich auch der Freundschaftsboom aufs Eheverständnis ab: Eine Ehe wurde als "gut" betrachtet, wenn zur sachlichen Solidität auch Respekt und Zuneigung zwischen den Eheleuten kamen. Wobei verbreitet davon ausgegangen wurde, dass sich Zuneigung/Liebe aus dem Respekt ergibt. Leidenschaft allerdings, die wurde als anstößig, ja sogar hinderlich angesehen für ein gedeihliches familiäres Zusammenleben.

Freigeistige Ideen:
So entstand im Laufe des 18. Jahrhunderts ein bürgerliches Ehe-Ideal, das danach trachtete, Respekt, Freundschaft, Zuneigung/Liebe und eine gemäßigte Sexualität mit materiellen und sozialen Ehegründen in Einklang zu bringen. Zeitgleich kamen freigeistige Ideen auf, die solcherart moralischen Konventionen kritisch gegenüberstanden. Die Abenteurer und Schriftsteller Giacomo Casanova und Marquis de Sade seien als extreme, berühmte Beispiele für die damals sich ausbreitende "Libertinage" angeführt. Diese Freizügigkeit erweiterte zwar das Repertoire der Liebe und der geschlechtlichen Beziehungen radikal. Aber anders als die heraufziehenden antifeudalen Revolutionen, die die gesellschaftlichen Strukturen von Grund auf veränderten, blieb in Sachen Geschlechterbeziehung die monogame Ehe die dominante Lebensform.

Mehr Gleichberechtigung:
Das änderte sich auch im 19. Jahrhundert nicht wesentlich - obwohl durch dieses Jahrhundert die ersten großen Bewegungen fluteten, die sich für die Emanzipation der Frau starkmachten. In der Folge der Französischen Revolution (1789) verbreitet sich die Idee der Gleichheit von Mann und Frau. Der Kampf ging um Wahlrecht, Arbeitsrecht, Vertragsrecht, Bildungsrecht für Frauen. Die innerfamiliäre Ordnung blieb davon im Grunde jedoch vorerst weitgehend unberührt: Auch mit der wachsenden Bedeutung, die man nun der romantischen Liebe für die Ehe zusprach, blieb die Vorherrschaft des Mannes in der Familie vereinbar.
Liebe und Ehe vereint:
Sah man im 18. Jahrhundert Erleben und Handeln idealerweise als Folge von Denken und Erkennen, so betrachtete man im romantischen 19. Jahrhundert auch Gefühle wie Liebe, ja sogar die sexuelle Lust als zum Menschen gehörig. Von daher galten sie, zumal im mäßigenden Ordnungsgefüge der Ehe, als durchaus vernünftig. Die Romantik vollzieht mit ihrer Betonung des Individuums und dessen empfindsamer Ganzheitlichkeit den Schritt hin zum Verständnis der "Liebe um der Liebe willen". Damit vereinte diese Epoche zugleich, was man das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit hinein für schier unvereinbar gehalten hatte: Liebe und Ehe.

Romantisches Ideal:
Die Liebe wurde nun - wie von Shakespeare 300 Jahre zuvor - zum ideellen Grund für die Ehe. So zumindest das romantische Ideal, das bis in die Gegenwart unsere Vorstellung vom Glück der Ehe oder inzwischen jedweder Paarbeziehung prägt. Auf den Realtitätsschock, dem Liebende ausgesetzt sind, sobald die anfänglichen Schmetterlinge im Bauch ermüden, bereitet das Ideal allerdings nicht vor.
In der nächsten Folge: Gutenberg und die Vervielfältigung der Schrift
Weitere Beiträge der Serie auf www.volksfreund.de/geschichte
Extra

Im Musical "Anatevka" nach dem Roman "Tewje, der Milchmann" erlebt Tewje 1905 in einem ukrainischen Dorf, wie der Trend zur romantischen Liebe seine Position als traditionsbewusstes Oberhaupt einer jüdischen Familie unterwandert: Die drei Töchter verweigern sich seinen Plänen zur zweckmäßigen Verheiratung mit ihm "passend" erscheinenden Kandidaten. Widerspenstig durchbrechen die entflammten Herzen der jungen Frauen überkommene Standes- und Religionsschranken. Die älteste wendet sich einem verarmten Jugendfreund zu. Die nächste einem studentischen Revolutionär, und die jüngste will einen Nichtjuden heiraten. Platonische Liebe nennen wir heute eine seelisch-geistige Liebe, die ganz ohne Sexualität auskommt. Dem alten Platon (Foto: dpa) deshalb einen Hang zu erotischer Enthaltsamkeit zu unterstellen wäre indes verfehlt. Der griechische Philosoph hatte lediglich drei Arten von Liebe definitorisch gegeneinander abgegrenzt. Mit "Eros" bezeichnet er die sinnlich-erotische Liebe, das leidenschaftliche Begehren wie den Wunsch, begehrt zu werden. "Philìa" ist bei Platon die Freundesliebe auf Basis gegenseitiger Anerkennung. "Agápe" schließlich meint die selbstlose und fördernde Liebe gegenüber dem Nächsten, ja sogar gegenüber dem Feind (Feindesliebe). Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e. V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e. V., Telefon: 02661/6702, Info: www.marienberger-akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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