Folge 29: Die Zeit der aufgeklärten Köpfe

Trier · Seit Ende des Mittelalters erlebt die Zivilisation eine bis heute anhaltende stete Beschleunigung ihrer Entwicklung. Das 17./18. Jahrhundert bringt erneut einen geistig-gesellschaftlichen Umbruch mit sich: die Aufklärung.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" So definierte Immanuel Kant das Kernstück der Aufklärung. Diese sich im 17. Jahrhundert entwickelnde philosophisch-politische Bewegung erklärte erstmals menschliche Vernunft zum höchsten und allgemeingültigen Beurteilungskriterium. Überkommene politische Strukturen wurden dadurch ebenso infrage gestellt wie das Bewusstsein des Einzelnen von sich selbst und damit das Menschenbild generell. Kurzum: Die Gesellschaft erlebte eine Erschütterung ihrer sämtlichen Grundfesten.
Kulturgeschichte der Menschheit


Religiöse Vorstellungen über das Funktionieren der Welt wurden mehr und mehr von einem naturwissenschaftlichen Weltbild abgelöst. Die Forderung an den Einzelnen, durch eigenes Nachdenken zu erkennen, was richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist, zersetzt die alte Autoritätsgläubigkeit. Neue Staatsformen werden denkbar. Die Aufklärung schafft die Grundlage zur Überwindung von Feudalismus und Absolutismus. Sie wird damit zu einem entscheidenden Entwicklungsschritt der neueren Geschichte, der schließlich politisch-weltanschaulich über die Französische Revolution und materiell über die technisch-industrielle Revolution in unsere moderne Welt einmündet.

Universalgelehrte:
Die wichtigsten Vertreter der Aufklärung waren Philosophen, Dichter, Dramatiker, Wissenschaftler, vielfach Universalgelehrte im Geiste der Renaissance. Um nur einige zu nennen: der Engländer John Locke als früher Vordenker oder der Schotte David Hume; Immanuel Kant, Friedrich Schiller oder Gotthold Ephraim Lessing in Deutschland; Jean-Jacques Rousseau und Voltaire in Frankreich.

Umbruch deutet sich an:
Deren Ideen verbreiteten sich schnell, wurden sogar an manchem europäischen Fürstenhof mit Interesse wahrgenommen, flossen in die höfischen Disputationen ein. Denn dass die Zeiten sich erneut im Umbruch befinden, lag seit dem Ende der Religionskriege des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in der Luft. Einerseits erlebte der Absolutismus seine Glanzzeit, andererseits war der stetige Aufstieg des Bürgertums zum ökonomisch bedeutsamen Faktor unübersehbar. Zugleich rüttelten Entdeckungen von Seefahrern und Reisenden, wissenschaftliche Forschungen und technische Entwicklungen an eben noch unverrückbaren Gewissheiten.

Gesellschaft unter Spannung:
Die Zeit, da die Bibel Mittel- und Orientierungspunkt des akademischen Lebens war und Theologie die höchste Wissenschaft, neigte sich erkennbar ihrem Ende zu. Neue Disziplinen wie Physik, Biologie, Chemie und Ökonomie befanden sich langsam, aber stetig auf dem Vormarsch. Die soziale Kluft zwischen unermesslichem Reichtum und barocker Prunksucht einerseits sowie bitterer Armut auf Seiten des teils noch immer in mittelalterlichen Vorstellungen befangenen Volkes, setzte die Ständegesellschaft immer stärker unter Spannung.
Unmündigkeit:
In diese Situation hinein traten die Aufklärer mit ihrer Forderung, alle Menschen mögen sich ihres eigenen Verstandes bedienen. Der bekannteste Vertreter der Aufklärung in Deutschland war Immanuel Kant (1724-1804). Er formulierte: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Kant sei hier nur kurz angesprochen, weil die nächste Folge unserer Wissens-Serie sich ausschließlich mit ihm befassen wird. Der Blick sei exemplarisch gerichtet auf zwei bedeutende Vertreter der Aufklärung, der eine aus Frankreich, der andere aus deutschen Landen: Voltaire (1694-1778) und Lessing (1729-1781).

Wunsch nach "gutem König":
Der 30 Jahre vor Kant geborene Franzose propagierte eine Art aufgeklärten Absolutismus. Er wünschte einen "guten König", der sich als erster Diener des Staates versteht und als Sachwalter des Gemeinwohls. Voltaire trat für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ein, war allerdings auch der Auffassung, dass es Unterschiede bei sozialem Status und materiellem Besitz immer geben werde. Er verkehrte an etlichen Höfen Europas. Wurde dort als universalgebildeter Denker, Dichter, Dramatiker und spitzzüngiger Gesellschafter durchaus geschätzt, ja teils verehrt. So vom Preußenprinzen und späteren König Friedrich II.

Religionskritiker:
Voltaire war ein entschiedener Religionskritiker. Seiner Ansicht nach widersprechen die Traditionen aller monotheistischen Religionen dem aufklärerischen Streben nach Toleranz und Vernunft. Weshalb die katholische Kirche seine Werke auf den Index setzte. Voltaires berühmt-berüchtigte Art, mit scharfem Spott und beißendem Sarkasmus dem selbstzufriedenen, abgehobenen, großmächtigen Adel die Leviten zu lesen, brachte ihm Anfeindungen bis hin zu Ausweisung und Gefängnis ein.

Gegenseitige Toleranz:
Der gerade in jüngerer Gegenwart auf deutschen Bühnen sehr viel gespielte Klassiker "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing darf als bekanntestes Beispiel für das Toleranzbemühen dieses deutschen Autors gelten. In dem 1778 entstandenen Theaterstück treffen zur Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem der moslemische Sultan Saladin, der jüdische Händler Nathan und ein christlicher Tempelritter aufeinander und geraten in Konflikt darüber, welche Religion die richtige sei. Ganz im Geiste der Aufklärung können die drei ihren Konflikt durch Einsatz vernünftigen Nachdenkens lösen. Sie kommen von der gewohnten Dogmatik ab und diskutieren stattdessen, wie jeder die Leitsätze seiner Religion in seinem Leben verwirklichen könne, um möglichst viel Gutes zu tun. Dazu müssten die Religionen gegeneinander Toleranz üben.

Witz, Ironie und Polemik:
Lessing stellt im "Nathan" wie in seinen religionstheoretischen Schriften Menschlichkeit auf Erden als universelles Prinzip über den rechthaberischen Zwist der Religionen um den allein seligmachenden Weg zu Gott. Atheismus wurde ihm oft vorgeworfen, aber genau genommen wies er seinen gläubigen Zeitgenossen den Weg zum modernen "Christentum der Vernunft". Wie Voltaire, so arbeitete auch Lessing intensiv mit den Mitteln von Witz, Ironie und Polemik. Seine Bedeutung für die weitere Entwicklung gerade der Literatur und des Theaters war enorm. Nicht zuletzt deshalb, weil er dort das Bürgertum als tragendes Handlungspersonal einführte.

Schulwesen im Blick:
Die Aufklärung stellt in den Vordergrund einen Menschen, der sich seines eigenen Kopfes bedienen solle, um die Welt zu begreifen und seine Stellung darin zu überdenken. Dies setzt natürlich ein Mindestmaß allgemeiner Bildung und angemessenen Denkvermögens bei möglichst großen Teilen der Bevölkerung voraus. Folglich richtete sich der aufklärerische Blick verstärkt auch auf das Schul- und Bildungswesen. Das mittlere 18. und frühe 19. Jahrhundert wurden deshalb zu einer Hochphase systematischer, bildungsreformerischer Aufbrüche. Dafür stehen beispielsweise in Frankreich der Universalgelehrte Jean-Jacques Rousseau, in der Schweiz der Pädagoge und Sozialreformer Heinrich Pestalozzi, in Deutschland der preußische Schulreformer Wilhelm von Humboldt.

Bildung für alle:
Humboldt trat dafür ein, allen Teilen der Bevölkerung Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Nach seinen Vorstellungen entstand die bis heute in Deutschland gültige Struktur von Elementarschule, Gymnasium und Universität. Das Konzept Humboldts basierte auf dem humanistischen Ideal der allgemeinen Bildung. Diese sollte nicht der Anhäufung von Faktenwissen und berufspraktischen Fertigkeiten dienen. Bildung zielt nach Humboldt vielmehr auf die Reifung des Menschen, hat seine Selbstentfaltung, das Wachsen von Geist und Erkenntnis zum Ziel.
In der nächsten Folge: Kant - Geistesgigant zu Königsberg
Weitere Beiträge der Serie auf www.volksfreund.de/geschichte
Extra

Das gesamte Wissen der damaligen Zeit in einem Buchwerk zusammenfassen und so allen Menschen zugänglich machen: Dieses ehrgeizige Ziel verfolgten Denis Diderot, Jean Baptiste le Rond d\\'Alambert und 142 Mitarbeiter mit der "Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch über die Wissenschaften, die Künste und das Handwerk". Mit 35 Bänden, erschienen zwischen 1751 und 1780, wurde die "Encyclopedie" (Foto: Wikipedia) zum Hauptwerk der Aufklärung. Der Anspruch seiner 60 000 Artikel war, das menschliche Wissen am Maßstab der Vernunft zu messen. Francis Bacons Devise "Wissen ist Macht" durchdrang die Arbeit an diesem gewaltigen Werk im Dienste einer neuen Zeit und Ordnung. Die Position der Frau wandelt sich während der Aufklärung mehrfach. Schon im 17. Jahrhundert ist es für Frauen durchaus legitim, publizistisch zu wirken. Bis ins frühe 18. Jahrhundert tauchen in Romanen vermehrt Frauen auf, die gegen ihre Eltern opponieren oder sich gegen männliche Übergriffe nötigenfalls mit der Waffe wehren. Gleichzeitig erlaubt die Mode der Galanterie, dass Frauen und Männer sich in der Diskussion auf gleicher Augenhöhe begegnen. Ab etwa 1720 verbreitet sich dann aber das Bild von der Frau als schutzbedürftigem schwachen Geschlecht. Um 1800 sind Hosenrollen weitgehend von den Bühnen verschwunden, spielen - ihrer vermeintlichen "Natur" folgend - Frauen schwächere Frauen. Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e. V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e. V., Telefon: 02661/6702, Info: www.marienberger-akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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