Folge 39: Ein Fall für die Couch

Trier · An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begann die wissenschaftliche Erforschung von Geist und Seele, und die erste Psychotherapie tauchte auf: Sigmund Freuds Psychoanalyse.

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Im Jahr 1856 wurde einem jüdischen Stoffhändler in Freiberg/Mähren ein Sohn geboren, der das Menschenbild bis heute prägen sollte: Sigmund Freud. Nach eigenem Bekunden fügte er dem Homo sapiens die "dritte große Kränkung" zu: Zuerst hatte Kopernikus den Menschen aus der Mitte des Universums verbannt, dann entthronte Darwin ihn als Krone der Schöpfung, und schließlich zeigte Freud, dass der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Kopf ist.
Kulturgeschichte der Menschheit



Ende der 1890er entwickelte Freud eine psychologische Theorie nebst psychotherapeutischer Methode: die Psychoanalyse. Beides veränderte nachhaltig nicht nur die Psychologie und die Medizin, sondern auch die Sozial- und Geisteswissenschaften sowie die Künste. Und was wir heute landläufig über Sexualität, Kindheit und die Bedeutung des Unbewussten denken, ist vielfach durchdrungen von seinen Auffassungen.

Traumdeutung:
Freud verbrachte den größten Teil seines Lebens in Wien. Er arbeitete erst als Neurologe an der Universität, nachher als Psychiater und Psychoanalytiker in eigener Praxis. 1938 musste er schwerkrank vor den Nazis nach London ins Exil flüchten, wo er 1939 starb. Er erforschte zunächst die Hypnose und deren Möglichkeiten für die Behandlung psychisch Kranker. Später entwickelte er eine psychiatrische Behandlungsform, die unter anderem auf Traumdeutung beruhte. 1899 erschien sein frühes Hauptwerk "Die Traumdeutung". Damit begann die Geschichte der Psychoanalyse.

Triebe und Über-Ich:
Freud sah die innere Struktur des Menschen aus drei Teilen zusammengesetzt. Die Basis bildet das Unbewusste, das "Es", als Quelle unserer Triebe, die nach Befriedigung suchen. Am anderen Ende der psychischen Struktur befindet sich das "Über-Ich", das die erlernten Erwartungen äußerer Autoritäten wie des Elternhauses oder der Gesellschaft ganz allgemein verkörpert. Seine Funktion ist es, unsere Triebe durch Verdrängung, Steuerung, Unterdrückung, Ersatzbefriedigung zu kontrollieren.

Das bewusste Ich:
Quasi zwischen diesen beiden liegt das bewusste "Ich" als derjenige Teil, der versucht, einen Ausgleich herzustellen zwischen den inneren Trieben und den Erfordernissen der äußeren Welt. Diese drei Teile der Psyche befinden sich also in einem beständigen Kampf miteinander, für den Freud die Parole ausgab: "Wo Es ist, soll Ich werden." Will sagen: Dadurch, dass Unbewusstes bewusst gemacht wird, wird es für das Individuum erst vernünftig beherrschbar.

Lustprinzip:
Freud war ein Aufklärer - und ein Pessimist. Er hielt den Menschen für ein Wesen, das primär von zwei instinkthaften Kräften bewegt wird: den Selbsterhaltungs- oder "Ich-Trieben" und den sexuell-sinnlichen Trieben, der "Libido". Durch ein Hin und Her von libidinöser Spannung und Entspannung wird der Mensch gesteuert, oder mit anderen Worten: durch das "Lustprinzip". Bereits in früher Kindheit aber treten der unmittelbaren Lustbefriedigung Einschränkungen entgegen, die von familiären, gesellschaftlichen, religiösen, moralischen Normen und Konventionen herrühren. Zum "Lustprinzip" tritt damit als Gegenpart das "Realitätsprinzip". Seelische Störungen ergeben sich, so Freuds These, wenn es nicht hinreichend gelingt, beide Prinzipien miteinander in Einklang zu bringen.

Tragisches Menschenbild:
Freuds Menschenbild ist ein tragisches, in dem für dauerhaftes Glück kein Platz ist. Zumal die zivilisierte Gesellschaft durch Triebunterdrückung erkauft wird. Bestenfalls können Leid, Spannungen und Störungen vermindert werden. Der Verminderung des Leids galt deshalb auch Freuds ganzes Streben. Für ihn bestand also eine elementare Konfliktsituation darin, dass dem Ausleben unserer natürlichen, triebhaften Bedürfnisse Beschränkungen auferlegt sind. Ein seelisch gesunder Mensch bekommt das einigermaßen hin, der seelisch Kranke flüchtet sich in problematische Scheinlösungen und/oder bekommt Schuldgefühle, Ängste. Solche misslungenen Konfliktbewältigungen nannte Freud "Neurosen". Bei Seelenzuständen, in denen die Realität ganz verlassen wird, spricht er von "Psychosen".

Erkundung des Unbewussten: Freuds wichtigste Einzelleistung war die Erkundung des Unbewussten. Man kann nicht sagen, dass er das Unbewusste entdeckt hätte. Schon bei vielen Denkern der Romantik spielte die Vorstellung unbewusster Prozesse eine Rolle. Aber Freud hat das Unbewusste in den Rang eines wissenschaftlich erforschbaren Gegenstandes erhoben. Seine Erkenntnis, dass Sexualität eine wichtige Rolle für unser ganzes Leben spielt, war richtig. Doch mit seiner zu starken Fixierung auf die unterdrückte Sexualität reagierte er wohl auf die Prüderie seines (viktorianischen) Zeitalters. Wichtiger ist indes, dass es ihm um eine wissenschaftliche Einstellung gegenüber der Sexualität ging, die durch Tabuisierungen bis dahin einer sachlichen Betrachtung weitgehend entzogen war.
Fehlleistungen:
Freud bemerkte aber auch: Das Unbewusste bleibt nicht vollkommen unbewusst. Wir ahnen unsere dunklen Triebe, erlauben ihnen aber keinen Zutritt zur bewussten Gedankenwelt. Wir entwickeln dagegen "Abwehrmechanismen". Dennoch bahnen diese Triebe sich immer wieder einen Weg in unser Bewusstsein, was die sprichwörtlichen Freud\'schen "Fehlleistungen" zur Folge haben kann: Vergessen, Verlegen, Verschreiben, Versprechen.

Entschlüsselung:
Das Unbewusste, so Freud, macht sich vor allem in unseren Träumen bemerkbar. Doch Träume bilden das Unbewusste selten klar ab, sondern verschlüsseln es in Symbole. Diese müssen in der psychologischen Traumdeutung erst entschlüsselt werden. Freud ließ sich daher von seinen Patienten ihre Träume erzählen und forderte sie dann auf, "frei zu assoziieren". Sie sollten vorbehaltlos alles aussprechen, was ihnen in den Sinn kam, wenn sie an ihre Träume dachten. Auf diese Weise gelang es ihm, die Verschlüsselung aufzuheben, die verborgenen Bedeutungen des Traums aufzudecken und Unbewusstes bewusst zu machen. Die Gefahr ist allerdings groß, etwas in die Traumsymbole hineinzuinterpretieren, statt etwas herauszulesen - was Freud und vielen anderen öfter passierte.

Kindheit entscheidend:
Bis zu Freud wurde generell unterstellt, dass man seine Leidenschaften und Triebe mit Selbstbeherrschung unter Kontrolle halten könne. Daher wurden Süchte und Obsessionen moralisch geächtet und bestraft, statt sie als Krankheiten und Fehlentwicklungen von Gehirn und Psyche zu behandeln. Lebensprägende Verdrängungen und Neurosen entstehen nach Freud alle in der frühen Kindheit, wenn das noch gänzlich selbstbezogene Kind die ersten Triebverzichte zu leisten hat. In den seelischen Krankheiten der Erwachsenen zeigen sich dann die nicht bewältigten Triebkonflikte ihrer Kindheit. Damit hatte Freud als Erster die prägende Bedeutung der frühen Lebensphase für das weitere Schicksal erkannt.

Forschung umstritten:
Sigmund Freud war einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Dennoch blieb die von ihm begründete "Psychoanalyse" bis in die Gegenwart umstritten. Er hat unser Menschenbild tiefgreifend verändert. Doch vieles von dem, was er meinte herausgefunden zu haben, lässt sich so heute nicht mehr aufrecht halten. Etwa seine zu monokausale "Libidotheorie" oder Diagnosen wie "Ödipuskomplex" und "Penisneid" - die oft mehr über seine patriarchalischen Vorurteile gegenüber Frauen verraten als über die Wirklichkeit.

Aktuelle Erkenntnisse:
Oft wurde Freud als überholt abgetan. Doch in jüngster Zeit hat die Hirnforschung entdeckt, dass er mit vielem wohl doch recht hatte, gerade was die Mitwirkung unbewusster Vorgänge an Psyche und Verhalten betrifft. Zur Wissenschaft gehört aber nun mal, dass sie sich stets weiterentwickelt und nicht bei den Verdiensten ihrer Pioniere stehen bleibt. Das gilt auch für Freud.
Nächste Folge: Einstein und das moderne Bild vom Universum
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Extra

Freuds Nachfolger


Aus der Psychoanalyse heraus haben sich viele verschiedene Schulen der Tiefenpsychologie entwickelt. Darunter zunächst die "Analytische Psychologie" von C. G. Jung, die "Individualpsychologie" von Alfred Adler oder die "Casework-Schule" von Otto Rank. Wichtige Anstöße zur Theorieänderung der Freud\\'schen Psychoanalyse kamen von den Vertretern der sogenannten "Neopsychoanalyse" der späten dreißiger Jahre, wie Harry Stuck Sullivan, Karen Horney und Erich Fromm. Sie - und andere, die danach kamen - mussten aber oft lange Zeit kämpfen, um sich gegen das dogmatische Denken einer geradezu sektiererischen Orthodoxie der psychoanalytischen Organisationen durchzusetzen.Religion als Selbstschutz


Je älter Sigmund Freud (Foto: dpa) wurde, desto mehr beschäftigte er sich auch mit allgemeinen kulturphilosophischen Fragen und reihte sich als Religionskritiker in die Tradition Ludwig Feuerbachs, Karl Marx\\' und Friedrich Nietzsches ein. Deren Ansätze ergänzt er durch eine eigene psychologische Perspektive. Er beschreibt Wunschdenken und Unterlegenheitsgefühle als wesentliche Gründe, warum Menschen religiös sind. Naturkräfte würden zu übernatürlichen Personen umgedeutet und zu schützenden Mächten erhoben. Das zugrundeliegende Verhaltensmuster knüpfe an die frühkindliche Erfahrung der schützenden Eltern an, mit Gott besonders an die Figur des Vaters. Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Jürgen Hardeck im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V., Telefon 02661/6702, Info: www.marienberger-akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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