50 Patienten in sechs Stunden: Wie der Alltag eines einzigen Chirurgen vor Ort aussieht

Neuerburg · Dr. Ingvo Müller ist der einzige Chirurg in und um Neuerburg (Eifelkreis Bitburg-Prüm). Er arbeitet 70 Stunden pro Woche und ist 330 Tage im Jahr im Krankenhaus in Neuerburg anzutreffen. Trotzdem müssen die Menschen um ihn bangen. Denn die Klinik wird in ihrer jetzigen Form nicht fortbestehen. Der Volksfreund hat dem Arzt einen Tag lang über die Schulter geschaut.

Neuerburg. Ihr Bein hat sich - wie schon öfter vorher - schwer entzündet. Lisa Barthel (70) aus Lünebach ist seit einer Woche in der Neuerburger St.-Josef-Klinik. "Ich war schon mehrmals hier. Das Pflegepersonal ist einmalig", lobt die 70-Jährige.

8 Uhr: Dr. Ingvo Müller, Chirurg im Neuerburger Krankenhaus, macht die tägliche Visite auf der chirurgischen Station. Die 70-Jährige ist seine Patientin. Ihr Unterschenkel ist dick eingebunden. Müller entfernt den Verband vorsichtig. Er tastet das geschwollene Bein ab. Die offene Wunde sieht schon viel besser aus. "Für ältere Menschen ist die Klinik ideal. Es wäre schade, wenn sie schließt", sagt die Frau.
Müller läuft weiter durch den in warmen Rot- und Rosé Tönen gestrichenen Gang zum nächsten Zimmer. "Das sieht schon gut aus", sagt Müller laut zu der 94-jährigen Patientin, die nicht mehr richtig hört. Nach einem Sturz war der Oberschenkelhals gebrochen, die Operation ist sechs Tage her. "Sie müssen ganz viel trinken", sagt Müller laut und hält dabei die Hand der Frau. "Wir sind aber gerade sehr gut belegt. Zu Ostern war die Belegung sehr schlecht." Massenabfertigung ist das hier nicht, die Klinik ist mit 48 Betten die kleinste in Rheinland-Pfalz. "Klasse statt Masse - das ist unsere Stärke und zugleich unsere Schwäche", sagt Müller. Der Träger, die Marienhauskliniken, hatten Ende Januar plötzlich angekündigt, die Klinik zum 30. Juni schließen zu wollen, weil sie jährlich einen Fehlbetrag von mehr als einer Million Euro einfahre . Zurzeit wird an einem Konzept für die künftige medizinische Versorgung in der Region Neuerburg gearbeitet (der TV berichtete).

8.30 Uhr: Nach zehn Patienten auf der chirurgischen Station steht eine ambulante Magenspiegelung in Teamarbeit mit Krankenschwester Hildegard Alff auf dem Programm. Sie überreicht Müller noch ein Paket frische Eier, bevor es losgeht. "Die bekomme ich immer von ihr", sagt Müller lachend. Hildegard Alff arbeitet seit 24 Jahren in der Klinik. "Ich wollte eigentlich bis zur Rente hier bleiben", sagt sie traurig. Der familiäre Zusammenhalt zwischen den Mitarbeitern sei groß. Alles gehe auf kleinem Dienstweg. Eine 63-jährige Frau hat Schmerzen im Bauch. Das Beruhigungsmittel wirkt. Müller schiebt einen Schlauch mit einer Minikamera in den Hals der Patientin. Auf dem Bildschirm wandert sie durch Speiseröhre, Magen, Zwölffingerdarm. Eine winzige Zange, die durch den Schlauch in den Darm wandert, zwickt winzige Proben aus der Magenschleimhaut heraus. "Die Schleimhaut ist leicht entzündet", stellt der Arzt fest.
In zackigem Schritt läuft der Chirurg hinüber in die chirurgische Praxis, wo bereits neun Patienten auf ihn warten.

10.15 Uhr: Das Wartezimmer platzt aus den Nähten. An der Anmeldung herrscht Hochbetrieb. Im hellgrün gefließten Behandlungszimmer beobachtet Stan, ein lebensgroßes Skellett im Arztkittel, die Szenerie. "Ich werde Ihre Krankschreibung verlängern", sagt Müller zu einem Patienten. Bei ihm hatte sich ein kleiner Stich am Mittelfinger zu einer schweren Entzündung entwickelt.
Auf einem Schrank liegen bunte Patientenkarteien. Grün steht für Kassenpatient, rosa für Berufsunfälle und gelb für Privatpatienten. Heute ist nur ein Privatpatient dabei. Die Quote liege unter fünf Prozent. Müller: "Wenn ich hier acht Stunden nur Kassenpatienten behandle, bin ich pleite. Das System ist einfach so ausgelegt, dass man verschiedene Einnahmequellen braucht." Seine drei Säulen seien Chirurgie, Berufsunfälle und Belegpatienten. "Der Beleg fällt bald weg, also bin ich bildlich gesprochen tot!"
Weiter geht es im Akkord. Türe auf, Türe zu. Hände desinfizieren. Begrüßung. Patient untersuchen. Diagnose. Hand schütteln. Nächster Patient. Zig Kranke wandern zügig durch die beiden Behandlungszimmer, zwischen denen Müller hin- und herpendelt. Trotz des straffen Zeitplans schafft Müller den Spagat zwischen Schnelligkeit und freundlicher Zuwendung. Einen gebrochenen Fuß, Schmerzen im Gelenk, Stechen in der Brust, einen gebrochenen Finger und einen stark entzündeten Zeh behandelt Müller. Zwischendurch schneidet er eine Zecke aus dem Arm der 34-jährigen Sabrina Müller aus Neuerburg. "Das Krankenhaus ist sehr wichtig für mich", sagt sie, "ich komme schon hierher seit ich Kind war."

11 Uhr: Das Wartezimmer leert sich langsam. Für den reibungslosen Ablauf sorgt Elke Kranz, die Müller in der Ambulanz und im OP assistiert. Müller hat eine 70-Stunden-Woche. "Ungewöhnlich ist das breite Behandlungsspektrum, das ich hier habe", sagt er. Der Träger des Krankenhauses, die Marienhauskliniken, wolle mit ihm ein medizinisches Zentrum aufbauen. "Der Träger würde meine Ambulanz übernehmen und mich anstellen", erklärt der Chirurg, "Aber wir sind uns noch nicht einig."

11.20 Uhr: Das Wartezimmer ist wieder voll. Das Telefon klingelt alle zwei Minuten. Melanie Hardt nimmt den Hörer ab, während schon der nächste Patient auf sie wartet. Trotz des spürbaren Stresses bleibt sie freundlich, jongliert den Hörer zurück auf das Telefon, stellt ein Rezept aus.

13 Uhr: Schreiner Lothar Winkelmann aus Üttfeld hat einen Splitter im Finger. "Den muss ich herausoperieren", sagt Müller. Die Schwester legt ein steriles Skalpell, Pinzette, Tupfer bereit. Müller spritzt Betäubungsmittel rund um die Wunde. Das zwei Zentimeter große Holzstück schneidet er mit dem Skalpell aus dem Finger. Der 49-jährige Patient sagt: "Ich komme immer hierher, wenn ich was habe. Wir brauchen die Klinik hier."

15.15 Uhr: Alle Patienten - das waren 50 Menschen in sechs Stunden - sind versorgt. Das sind rund acht Patienten pro Stunde. Müller: "Ich mache meinen Beruf gern, er ist schön." Nun kann er zu Mittag essen.Extra

 Finger gebrochen: EIn Junge mit grünem Verband.

Finger gebrochen: EIn Junge mit grünem Verband.

Foto: Mandy Radics

Zur Person: Dr. Ingvo Müller ist 51 Jahre alt und seit April 2008 in der Neuerburger St.-Josef-Klinik tätig. Müller ist verheiratet und Vater von drei Kindern. In seiner Freizeit fährt der Arzt gerne Fahrrad. Er verfügt über eine breite Ausbildung in der Chirurgie, Unfallchirurgie und ist orthopädisch geschult. Pro Quartal behandelt er 1000 ambulante Kassenpatienten, pro Jahr 600 Arbeitsunfälle. MRA

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort