Der lange Weg zurück ins Leben

Wittlich · Dass Marcus Müller lebt, grenzt an ein Wunder. Der 26-Jährige hat vier Schlaganfälle erlitten, ist seitdem halbseitig gelähmt - weil er im Wittlicher Krankenhaus nicht richtig behandelt wurde.

Wittlich. Jeder Schritt ist für Marcus Müller anstrengend. Langsam setzt der 26-Jährige einen Fuß vor den anderen. Dass er überhaupt gehen, sich bewegen und reden kann, grenzt an ein Wunder. Müller hat vier kurz aufeinander folgende Schlaganfälle überlebt. Die Diagnose der Ärzte lautete damals: Dauerhafte Lähmung aller Gliedmaßen, Unfähigkeit zu sprechen und zu schlucken - und damit auch zu essen und zu trinken.
Doch der gelernte Schreiner hat sich seit drei Jahren wieder zurück ins Leben gekämpft. Und das will er an diesem Tag zeigen. Der 26-Jährige, der halbseitig gelähmt ist, kommt ohne Gehhilfe ins Trierer Landgericht. In einem Geschäftszimmer wird heute ein Urteil verkündet. Sein Urteil, auf das er seit drei Jahren wartet. Er hat das Wittlicher Krankenhaus verklagt. Müller gibt der Klinik die Schuld an seinem Schicksal.
Eigentlich müsste er zu dem Termin nicht persönlich im Gericht erscheinen. Üblicherweise wird in Zivilverfahren das von den Richtern gefasste Urteil an die Beteiligten verschickt. Doch Marcus Müller und sein Vater Ulf wollen dabei sein, wenn sie recht bekommen. 65 000 Euro Schmerzensgeld. So viel muss das Wittlicher Krankenhaus dem 26-Jährigen zahlen. Weil die Ärzte ihn falsch oder gar nicht behandelt haben. Marcus Müller ist zunächst enttäuscht. Er hat mit mehr gerechnet. "Du hast gewonnen", macht ihm sein Vater klar.
Rückblende: Es ist der 7. August 2011. Müller ist mit seiner Freundin und mit Bekannten in Wittlich auf der Kartbahn. Plötzlich bekommt er unerträgliche Kopfschmerzen. "Ich dachte, mir platzt der Kopf", erinnert er sich. Seine Freundin Laura stützt ihn und fährt ihn nach Hause. Müllers Zustand verschlechtert sich zusehends. Er kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, erbricht sich, spricht verschwommen. Sein Vater ruft den Notarzt. Der stellt einen lebensbedrohlichen Zustand fest und bringt Marcus Müller ins Wittlicher Krankenhaus.
Zwar kommt er dort sofort auf die sogenannte Stroke Unit, die Spezialabteilung für Schlaganfallpatienten. Doch einen Schlaganfall hätten die Ärzte dort zunächst ausgeschlossen, sagt Ulf Müller. Stattdessen hätten sie eine Lebensmittelvergiftung oder Drogen oder Alkohol als Ursache für den Zustand des jungen Mannes vermutet. Warum denn kein MRT gemacht werde, habe er den Arzt gefragt. Mit dieser bei Schlaganfall gängigen Untersuchung des Gehirns kann festgestellt werden, ob es sich um ein Blutgerinsel handelt, dass den Hirninfarkt ausgelöst hat. Sonntags werde kein MRT gemacht, soll der Arzt gesagt haben.
Eine Sprecherin des Krankenhausträgers, der Cusanus-Trägergesellschaft Trier (CTT), bestätigt das. "Die wenigsten regionalen Schlaganfallstationen, wenn sie überhaupt über MRT verfügen, bieten bisher eine Rund-um-die-Uhr-MRT-Versorgung."
Er solle sich keine Sorgen machen, habe ein Arzt ihm gesagt, erinnert sich Müller. Das sei kein Schlaganfall, eher eine Migräne. Er könne seinen Sohn morgen gesund wieder mit nach Hause nehmen. Einen Satz, den Ulf Müller wohl nicht vergessen wird. Denn sein Sohn ist seit dieser Zeit nicht mehr gesund. Nur mit viel Glück hat er überhaupt überlebt.
Am Abend dieses Sommersonntags verschlimmert sich der Zustand des damals 23-Jährigen rapide. Es kommt zu neurologischen Ausfällen, zu Lähmungen und Sprechstörungen. Spätestens jetzt hätte eine MRT-Untersuchung erfolgen müssen, sagt der Gutachter im Prozess aus. Und die Ärzte hätten auf jeden Fall Lyse, ein Medikament, das Blutgerinsel im Gehirn auflöst, verabreichen müssen. Dann hätte - so der Gutachter bei der Gerichtsverhandlung - die Chance bestanden, bleibende Schäden zu verhindern. Doch Marcus Müller bleibt unbehandelt. Morgens habe das Krankenhaus ihn dann angerufen und mitgeteilt, er solle, wenn er seinen Sohn noch lebend sehen wolle, schnell kommen, sagt der Vater. Marcus Müller wird per Hubschrauber ins Trie-rer Brüderkrankenhaus verlegt. Auf der dortigen Schlaganfalleinheit werden dann vier Schlaganfälle festgestellt - und die niederschmetternde Diagnose: Der 23-Jährige, der sich kurz zuvor als Versicherungsmakler selbstständig gemacht hat, wird sich vermutlich nie mehr bewegen können. Doch zusammen mit seiner Freundin, die ihn mittlerweile geheiratet hat, kämpft Müller. Nach drei Monaten im Krankenhaus folgt ein Jahr Rehabilitation - zunächst in Bernkastel-Kues, später am Bodensee. Er lernt wieder auf eigenen Füßen zu stehen, zu gehen und zu sprechen. "Ich wollte aus diesem Rollstuhl raus", sagt er. Und: "Mein größter Wunsch war, meiner Frau morgens ihren Cappuccino zu kochen und mit meiner Katze zu kuscheln." Müller hat es geschafft. Noch in diesem Jahr will er mit seiner Frau in das neue, behindertengerechte Haus in Altrich (Bernkastel-Wittlich) einziehen, das das Paar gerade baut.
Die Krankenhausleitung bedauere den Verlauf der Ereignisse, sagt CTT-Geschäftsführer Günther Merschbächer. "Wir betonen ausdrücklich, dass wir dem ehemaligen Patienten über diesen Weg alles erdenklich Gute wünschen."

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