Von Zwangssterilisation bis Mord

Bernkastel-Wittlich · 300 000 Menschen fielen der Nazi-Euthanasie zum Opfer. Es waren körperlich und geistig Behinderte, psychisch Kranke, vor allem kranke und körperbehinderte Kinder. Sie wurden systematisch zwangssterilisiert, auch getötet. Die Leiterin des Kreisarchivs, Claudia Schmitt, recherchiert über die Opfer im Landkreis.

 Penibel gelistet: Die Bürokratie mit ihren Akten ermöglicht heute den Nachweis der Zwangssterilisierungen. Fotos (3): Claudia Schmitt/Kreisarchiv

Penibel gelistet: Die Bürokratie mit ihren Akten ermöglicht heute den Nachweis der Zwangssterilisierungen. Fotos (3): Claudia Schmitt/Kreisarchiv

Foto: (m_kreis )

Bernkastel-Wittlich. "Es hat mich regelrecht erschüttert, dass es so alltäglich war." Das sagt Claudia Schmitt, Leiterin des Kreisarchivs, nachdem sie mehr als zwei Jahre Schicksalen von Menschen im Kreis nachgespürt hat, die in der Zeit des Nationalsozialismus entweder zwangssterilisiert oder auch ermordet wurden: furchtbare Geschichten, die fast vergessen wurden.
Jedoch ist seit längerem das Interesse der Forschung an diesen Opfern erwacht. Claudia Schmitt hat zudem schon über Zwangsarbeit in der NS-Zeit im Kreis geforscht: "Und alles hängt irgendwie zusammen. So stoße ich immer wieder auf diese Themen und fange an nachzuforschen: Wie war das bei uns?" Ihre Recherche ist noch nicht abgeschlossen, das wird sie vermutlich nie, aber die Kreisarchiv-Leiterin hat mit Unterstützung des Landeshauptarchivs viele Fälle aus alten Akten dokumentieren können.
So erinnert ihre Arbeit an das, was fast vergessen ist und auch in den Altkreisen Wittlich und Bernkastel schlimme Folgen für die Menschen hatte.
Am Anfang stand dabei der Mensch, der einen anderen Menschen beim Gesundheitsamt anzeigte: Ärzte, Hebammen, Mitarbeiter aus Heil- und Pflegeanstalten, Fürsorgeheimen meldeten dem Gesundheitsamt kranke oder körperbehinderte Personen. Auch Ortsbürgermeister und Ortsvorsteher meldeten Menschen, die unter das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" fielen: Körperbehinderte, Blinde, Taube, körperlich und seelisch Kranke, Geisteskranke und Alkoholiker. Weiterhin taucht ein Musterungsarzt im Aktenmaterial auf. Er meldete dem Wittlicher Landrat fünf "dienstpflichtige Männer" aus dem Landkreis Wittlich zur Sterilisierung.
Die massive Anzeigewelle an Gesundheitsämtern hat mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 begonnen. Die Folge für die Angezeigten reichten von Zwangssterilisation bis zur Ermordung.
Ziel war es, sogenanntes "minderwertiges Erbgut" auszumerzen. Die Menschen sollten unfruchtbar gemacht werden. Und viele von ihnen wurden ab 1939 systematisch in den NS-Euthanasie-Mordaktionen durch Gas, Todesspritzen und andere Methoden getötet. Man gehe von mehr als 300 000 Toten aus, schreibt Schmitt in ihrer Arbeit.
In der Region waren das Kreiskrankenhaus Wittlich, das Evangelische Krankenhaus Trier und das Kreiskrankenhaus Saarburg zuständig.
Dort wurden die angezeigten Menschen und Familien begutachtet und den Erbgesundheitsgerichten gemeldet. Diese ordneten nach den Diagnosen der begutachtenden Ärzte Zwangssterilisierungen an. Claudia Schmitt hat dazu in ihrer Recherche über die Situation im Kreisgebiet unter anderem 146 Akten des Gesundheitsamtes Wittlich herausgefiltert mit Anzeigen zur Sterilisierung sowie Berichten über ausgeführte Sterilisierungen.

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Hinzu kam vergangenes Jahr ein Zufallsfund: Bei einer Umzugsaktion innerhalb der Kreisverwaltung wurde ein alter Schreibtisch geräumt, in dem eine alte Mappe auftauchte, die dem Kreisarchiv übergeben wurde. Ihr Inhalt: "Ein erschütternder bürokratischer Nachweis der Zwangssterilisierungen in fast allen Orten des Altkreises Wittlich", so Schmitt.
Es ist eine handschriftliche "Liste der vorgenommenen Unfruchtbarmachungen auf Grund des Gesetzes vom 14. Juli 1933" der Jahre 1935 bis 1943 des (Alt-)Kreises Wittlich. In ihr sind 213 Menschen gelistet.
Nach einem Abgleich mit den Erbgesundheitsakten des damaligen Wittlicher Gesundheitsamtes sind nun von Claudia Schmitt 255 zwangssterilisierte Menschen aus dem Altkreis Wittlich mit Eingriffsdatum und Angabe des ausführenden Krankenhauses ermittelt worden.
Das jüngste Opfer war 13 Jahre, die älteste Frau war 46 Jahre. Von den Männern war der älteste 52 und der vermutlich jüngste Sterilisierte 16 Jahre alt. Außerdem sind durch die Arbeit des Gymnasiallehrers Franz-Josef Schmit dem Kreisarchiv vier Menschen aus dem heutigen Landkreis bekannt, die der Euthanasie-Tötungsaktion zum Opfer gefallen waren. Ihre Diagnosen lauteten auf "angeborener Schwachsinn".
Wer übrigens nicht zum angeordneten Termin erschien, wurde mit der Polizei gebracht. Solche Fälle sind aus Wittlich, Salmrohr, Kröv, Bausendorf, Laufeld, Großlittgen, Flußbach und Krinkhof bekannt. Claudia Schmitt hat auch 27 Verdachtsfälle für mögliche Euthanasiemorde unter den Sterilisationsopfern gefunden: vor allem Kinder, Jugendliche auch Erwachsene aus Anstalten.
Sie sagt: "Man hat im Endeffekt eine Art Rasterfahndung nach den Menschen gemacht, die in Anführungszeichen als ,geisteskrank' galten. Das ist so schlimm. Das waren Menschen mit schweren Schicksalen. Mancher hatte vielleicht einen Nervenzusammenbruch wie man ihn heute Burnout nennen würde. Und dann ist man eingewiesen worden. Die Familien haben so nicht nur einen Angehörigen verloren. Sie haben auch aus Scham geschwiegen. Man hat etwa Mütter in ihrer Trauer, die nicht zugelassen war, allein gelassen." Claudia Schmitt recherchiert weiter. Jetzt stehe der Altkreis Bernkastel im Fokus.
Kontakt: Claudia Schmitt, Kreisarchiv, Telefon: 06571/96633, Fax: 06571/14 42 905,
claudia.schmitt@bernkastel-
wittlich.de .
Extra

Von Zwangssterilisation bis Mord
Foto: (m_kreis )
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Die Eingriffe wurden durchgeführt: im Kreiskrankenhaus Wittlich (64 Männer) im Ev. Krankenhaus Trier (121 Personen) im Kreiskrankenhaus Saarburg (7 Männer) im Elisabeth-Krankenhaus Koblenz (17 Personen) im Krankenhaus Neuwied (4 Personen) in der Universitäts-Frauenklinik Bonn (9 Frauen) in der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg bei Wiesbaden (2 Personen) in Köln (1 Person), Essen (1 Person), Krefeld (1 Person), Heinsberg (1 Person) Heidelberg (1 Person), Schönbeck (1 Person), und Viersen (1 Person)

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