Atomexperte: Kernkraftwerk Cattenom befindet sich auf Stand der 1970er Jahre

Cattenom/Berlin · Das Atomkraftwerk Cattenom soll noch bis 2046 am Netz bleiben. Nach Ansicht der Grünen im Bundestag ist das unverantwortlich. Denn ein von ihnen in Auftrag gegebenes Gutachten listet gravierende Sicherheitsmängel auf.

37 Zwischenfälle hat es im vergangenen Jahr im Kernkraftwerk Cattenom gegeben - offiziell. Die meisten davon seien unbedeutend gewesen, hätten keine sicherheitsrelevante Bedeutung gehabt, sagte der Direktor der Anlage, Guy Catrix, diese Woche. Lediglich fünf dieser Zwischenfälle seien als Störung oder Abweichung vom Normalbetrieb eingeordnet worden. Seit langem gilt das Kernkraftwerk im französischen Cattenom, das aus vier Kühlwasserreaktoren besteht (siehe Grafik), als eine Pannenanlage.

Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen und zu automatischen Abschaltungen einzelner Reaktoren. Rheinland-Pfalz, das Saarland und Luxemburg fordern seit Jahren die Abschaltung. Doch daran scheint der Betreiber der drittgrößten Atomanlage Frankreichs, der Energiekonzern EDF, noch lange nicht zu denken. Gerade erst wurde Cattenom, wo im vergangenen Jahr 36,8 Milliarden Terawattstunden Strom produziert worden sind, für eine Laufzeit von weiteren zehn Jahren ertüchtigt. Doch selbst mit dann 40 Jahren am Netz soll laut Catrix noch nicht Schluss sein. Er sprach davon, dass Cattenom mindestens noch 30 Jahre, also bis 2046, Strom produzieren soll.

Eine Horrorvorstellung für Sylvia Kotting-Uhl. "Der von der EDF geplante Langzeitbetrieb Cattenoms ist unverantwortlich. Dieser alte Risikomeiler muss im Gegenteil sofort für immer vom Netz", sagt die atompolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion.

Bestätigt wird sie von einem von ihr und dem Grünen-Chef im Bundestag, Anton Hofreiter, in Auftrag gegebenen Gutachten. Auf 70 Seiten kommt der Sachverständige für Atomsicherheit, Manfred Mertins, zu dem Schluss, dass nach deutschen Standards Cattenom stillgelegt werden müsste. Es gebe gravierende Defizite gegenüber international geltenden Standards. So fehle es in Cattenom an doppelten Sicherheitsvorkehrungen für den Fall, dass ein Sicherheitssystem ausfalle. Dann, so Mertins, gebe es keine zusätzliche Sicherung mehr für den Fall, dass das Atomkraftwerk weiterläuft.

"Die sicherheitstechnische Auslegung des Atomkraftwerks Cattenom entspricht den Anforderungen, die in den 1970er Jahren der Sicherheit von Atomkraftwerken zugrundegelegt wurden", heißt es in dem Gutachten.

In dieser Zeit wurde die Anlage geplant, 1979 mit dem Bau des ersten Reaktorblocks begonnen. Sieben Jahre später, am 13. November 1986, ging dieser in Betrieb. Die damals verwendeten Sicherheitsvorkehrungen entsprächen nicht mehr dem aktuellen Stand von Technik und Wissenschaft, sagt der Experte.

Mertins berücksichtigt in seinem Gutachten, dass Cattenom im Laufe der Zeit, vor allem nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima im Jahr 2011, nachgerüstet wurde. Doch diese Nachrüstungen hätten vor allem das betriebliche Sicherheitsmanagement, wie etwa die Alarmierung im Notfall, oder auch die Einführung digitaler Technik für den Betrieb der Anlage betroffen. Mehr Sicherheit und Schutz hätten diese Maßnahmen aber letztlich nicht gebracht. Mertins geht davon aus, dass sich eine Anlage wie Cattenom auch nicht mehr nachrüsten lässt, um auf den neuesten Stand der Sicherheitstechnik zu kommen. Wenn der Reaktor von außen, durch Erdbeben, Überschwemmungen oder abstürzende Flugzeuge, beschädigt werde und mehrere Teile des Notfallsystems ausfielen, gebe es keine Sicherheitsvorkehrungen mehr, um etwa eine Kernschmelze zu beherrschen.

Hofreiter fordert daher von der Bundesregierung, mit Frankreich über die "unverzügliche Stilllegung Cattenoms" zu verhandeln. "Sie hat immer noch nicht verstanden, dass sie sich bei grenznahen Atomkraftwerken wie Cattenom nicht mit dem Verweis auf die ausländische Aufsichtsbehörde wegducken darf", sagt Hofreiter unserer Zeitung.

Solche Gespräche fordert seit langem auch der Trierer CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Kaster. Auf seine Anfrage hin hat das SPD-geführte Bundesumweltministerium mitgeteilt, dass es keine Verhandlungen mit Frankreich über Cattenom geben werde. Die Sicherheit der Anlage werde in der deutsch-französischen Kommission für Fragen der Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen debattiert, teilte das Ministerium auf TV-Anfrage mit. Außerdem seien für Cattenom keine "sicherheitsrelevanten Befunde" wie etwa in belgischen Atomkraftwerken (siehe Extra) bekannt.

Die Bundesregierung interessiere sich zu wenig für den Schutz der Anwohner in der Region, sagt Grünen-Fraktionschef Hofreiter: "Aufgrund des Moselverlaufs und der vorherrschenden Windrichtung tragen Rheinland-Pfalz und das Saarland mit das höchste Risiko, von den Folgen eines Atomunfalls in Cattenom betroffen zu sein." Die Bevölkerung habe aber im Gegensatz zur französischen keine wirkliche Handhabe gegen das Risiko. "Die einzige, die selbst Einfluss nehmen oder für mehr Schutz der hiesigen Anwohner sorgen könnte, ist die Bundesregierung. Die traut sich nicht einmal, klare Worte zu finden."Extra

Der Atomexperte Manfred Mertins schätzt den Sicherheitsstand im belgischen Atomkraftwerk Tihange, gut 140 Kilometer von Prüm entfernt, im Vergleich zu dem in Cattenom zwar höher ein. Allerdings sei es gefährlich, wenn wie in Tihange Mängel an einem Kernkraftwerk sichtbar würden. 2012 wurden dort Risse am Reaktor festgestellt. Seitdem ist es immer wieder zu Pannen und Abschaltungen der Anlage gekommen. Zuletzt wurde der erste von zwei Reaktoren am Dienstag heruntergefahren, nachdem es Probleme mit einer Pumpe gegeben hatte. Drei Wochen lang soll die Anlage, die im Dezember wegen eines Feuers vom Netz gehen musste, abgeschaltet bleiben, teilte der Betreiber gestern mit. Der zweite Block wurde trotz der Haarrisse im Reaktorbehälter im Dezember 2015 wieder angefahren. wie

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