Die Regenbogenfahne auf Halbmast - Orlando trauert nach dem Blutbad

Orlando · Schon kurz nach dem verheerenden Massaker im Schwulenclub „Pulse“ laufen die Spekulationen über die Motive des Täters auf Hochtouren. So mancher hat sich bereits eine feste Meinung gebildet - und schlachtet das Thema für politische Zwecke aus.

(dpa) - Wer die Namen der Toten finden will, muss nicht lange suchen. Eine Liste mit den Opfern steht im Internet; die Schicksale dahinter erzählt sie nicht. Alle auf der Liste eint, dass sie in der Nacht zu Sonntag in einem Club in Orlando feierten, als ein Mann dort das wohl grausamste Blutbad eines Einzeltäters in der Geschichte der USA anrichtete.

Rob Domenico fürchtet sich davor, auf die Liste zu schauen. „Ich habe Angst, dass jemand drauf steht, den ich mag“, sagt der zierliche Mann traurig.

Der 40-Jährige sitzt am Montag nach der Tat in einem Zentrum für Schwule und Lesben in Orlando. Der Tatort liegt nicht weit entfernt. „Gestern waren wir beherrscht, heute sind all unsere Herzen gebrochen“, sagt er.

Er selbst war schon oft im „Pulse“, brachte sogar einmal seine 66-Jährige Mutter dort hin. Der Club ist überaus beliebt in Orlando, immer voll, besonders an diesem Samstagabend. Schließlich ist Juni der „Gay Pride Month“, in dem Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle die Fortschritte feiern, die sie nach langen Jahren gesellschaftlicher Diskriminierung erreicht haben.

„Es ist einfach ein Ort, an dem man Spaß haben kann“, sagt Domenico. Als der Todesschütze Omar Mateen im Club das Feuer eröffnete, schlief er. Ein Anruf seines Mannes weckte ihn.

Er fuhr in das Zentrum, zu dessen Organisatoren er gehört. Seitdem ist er unermüdlich auf den Beinen. Rund 200 Freiwillige boten ihre Hilfe an. In den hinteren Räumen des Gebäudes stapeln sich Wasserflaschen, Kekspackungen, Brot. Alles Spenden. „Wir haben so viele bekommen, dass wir einen Teil zur Blutbank gebracht haben“, sagt Robert Carner, ein Helfer. Der 53-Jährige ringt um Fassung, als er erzählt, wie zwei kleine Kinder tags zuvor Selbstgebackenes vorbei brachten. „In diesem Moment konnte ich nicht an mich halten.“

Die LGBT-Community in Orlando sei akzeptiert, stehe aber am Rand, sagt Rob Domenico. Für ihn kommt es nun deshalb darauf an, ob die Gesellschaft zur Community steht - und das auch offen zeigt. „Wer uns nur stumm unterstützt, unterstützt uns nicht“, sagt er.

Aber die Debatte in den USA hat sich längst in eine andere Richtung gedreht. Noch während am Tatort stumm das Blaulicht der zahlreichen Polizeiwagen durch die Nacht zuckte, wurde im Rest des Landes längst hitzig und verbissen über die Konsequenzen der Tragödie debattiert. Strengere Waffengesetze fordern die einen, schärfere Sicherheitsvorkehrungen gegen Terrorismus und einen härteren Umgang mit mutmaßlichen Islamisten die anderen. Jeder will die Deutungshoheit gewinnen.

Der Islamische Staat (IS) behauptet, seine Finger mit im Spiel gehabt zu haben. Der Todesschütze Omar Mateen hat sich in einem Anruf bei der Polizei zu der Terrormiliz bekannt. Vater und Ex-Frau Mateens beschreiben ihn als nicht sehr religiös, aber psychisch labil und gewalttätig.

Und Donald Trump twittert. Orlando sei erst der Anfang, er habe es gewusst und nicht umsonst ein Einreiseverbot für Muslime gefordert, schreibt der umstrittene Republikaner, der seine Partei wohl in die Präsidentschaftswahl im Herbst führen wird. Es ist nicht seine einzige Nachricht in dem Kurznachrichtendienst. Später fordert er Präsident Barack Obama zum Rücktritt auf.

Dabei ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar, was den Täter bewegte. Die Ermittlungsbehörden und auch Obama selbst weisen ausdrücklich darauf hin, dass es aus ihrer Sicht zu früh ist, um ein Urteil zu fällen.

Ein Urteil darüber, was Mateen dazu brachte, in ein Auto zu steigen, rund 170 Kilometer weit zu fahren, dann in einen Club zu gehen und das Feuer auf feiernde Menschen zu eröffnen. Mit einem halbautomatischen Gewehr. Einer Waffe, wie sie so ähnlich auch beim Militär benutzt wird. Einer Waffe, die für Schützen hergestellt wurde, die in kürzester Zeit sehr viele Schüsse abgeben wollen. Einer Waffe, die er ganz legal kaufen konnte.

Mehr als hunderte Menschen, so heißt es später, waren da, als das Grauen begann, viele von ihnen auf der Tanzfläche.

Man kann nur erahnen, was für entsetzliche Szenen sich in den verzweigten Gängen des Clubs abgespielt haben. Der Täter nahm Geiseln, hätte vielleicht noch viel mehr Unschuldige niedergemetzelt. Nach drei Stunden stürmt die Polizei gewaltsam. Mateen wird erschossen.

Paul Thorstensen, Mitarbeiter eines nahen Schnellrestaurants, war da gerade vor der Notaufnahme, um Essen auszuliefern. Seine Eindrücke fasst er mit einem Wort zusammen: „Schrecklich.“ Menschen seien in alle Richtungen gerannt. Als er zu seinem Sandwich-Shop zurückgekehrt sei, habe der Geruch von Schießpulver in der Luft gelegen. „Jedes einzelne Polizeiauto aus Orlando war hier.“ Am Tag zwei nach der Bluttat stehen noch immer etliche von Polizeiwagen in der Straße.

Vor dem Schwulen- und Lesbenzentrum, nicht weit entfernt, wehen unterdessen zwei Flaggen auf Halbmast. Die amerikanische oben, eine Regenbogenfahne darunter.

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