Tourette-Syndrom - ein Leben mit massiven Tics: Sebastian Hurth will über sein Handicap aufklären

Saarburg/Wittlich · Er ist 26 Jahre alt und froh, kiffen zu können: Sebastian Hurth ist einer der wenigen Deutschen, die offiziell Cannabis konsumieren dürfen. Das ermöglicht ihm, einfach mal ruhig ein Gespräch zu führen und eben nicht herumzuspringen, Rufe, Töne auszustoßen, über die er keine Kontrolle hat. Er hat das Tourette-Syndrom in sehr starker Ausprägung. In der Fernsehsendung Nachtcafé am Freitag wird der Saarburger erzählen, wie er mit seinen Tics lebt.

 Ruhig stehen geht, ruhig sitzen kann Sebastian Hurth selten. Er hat Tics und trägt einen Brustpanzer, der ihn vor sich selbst schützt.

Ruhig stehen geht, ruhig sitzen kann Sebastian Hurth selten. Er hat Tics und trägt einen Brustpanzer, der ihn vor sich selbst schützt.

Foto: (h_sab )

Saarburg/Wittlich. Geht ein junger Mann an mehreren türkischstämmigen Männern vorbei und ruft: "Kanackenschweine!" Wumms - landet eine Faust auf seinem Bauch. Doch der, der geschlagen hat, geht in die Knie und fragt verwundert: "Alter, was machst du für'n Sport?"
Sebastian Hurth kann jetzt in der Distanz darüber lachen. Doch er ist der Schreihals und junge Mann mit dem angeblich stählernen Sixpack, denn er hat das Tourette-Syndrom (siehe Extra).

Das bedeutet, dass er, ohne es steuern zu können, provozierende Dinge sagt oder schreit, aber auch mit den Armen fuchtelt oder wild umherspringen muss: Er hat sogenannte Tics, und zwar der massiven Art.
Und deshalb trägt er, eigentlich zum Schutz vor sich selbst, einen Brustpanzer, denn er hat sich schon einmal selbst eine Rippe gebrochen.
Jetzt hat die Faust eines anderen den Panzer zu spüren bekommen. Er betont: "Die Ausrufe drücken keinesfalls meine politischen Ansichten oder dergleichen aus. Jede Beleidigung anderen gegenüber tut mir sehr leid, vor allem, wenn sich jemand durch diese gekränkt fühlt."

Sebastian Hurth sitzt aufrecht in einem Wittlicher Café. Unter dem dunklen Poloshirt sieht man den Panzer nicht. Gerade ist er ruhig, denn er hat an einer Zigarette gezogen, die mit Cannabisblüten gefüllt ist.
Kurz zuvor hat er noch wie verrückt trillernde, vogelartige Töne von sich gegeben und hektisch rumgezappelt. Die Leute haben irritiert geguckt. Dann hat er eben die Zigarette, die man gemeinhin auch Joint nennt, geraucht. Doch das macht er nicht, um sich zu berauschen, sondern um die Tics zu dämpfen.

Er hat seit April 2016 dazu die offizielle Erlaubnis nach Paragraf 3 Absatz 2 des Betäubungsmittelgesetzes. Die Ausnahmegenehmigung, die, so weiß er, aktuell mehr als 1000 Menschen deutschlandweit haben, ist ein Din-A-4-großes Dokument. Er muss es immer im Original dabei haben. Vielleicht ermöglicht ihm das endlich ein entspannteres Leben. Bisher klappt es. Es helfe ihm, bei dem, wie er sagt, alle Medikamente versagt haben. Weder Mittel, die sonst Parkinson- oder auch Multiple Sklerose (MS)-Patienten nehmen, seien bei ihm angeschlagen, die Nebenwirkungen seien zudem nicht ohne gewesen.
Jetzt stehe ihm plötzlich die Welt wieder offen. "Ich würde wieder gerne was im sozialen Bereich oder mit Tieren machen", sagt der junge Mann. Vielleicht geht das.

Wenn er die Cannabisblüten immer von seiner speziellen Apotheke bekomme, wobei es keine Liefergarantie gebe, und er alles gut einteile, könnte es klappen. Pause von den schweren anfallartigen Tics.
Ansonsten hat er ein kleineres Dokument von seinem Arzt stets dabei. Darauf steht, dass er unter dem genetisch bedingten Tourette-Syndrom leidet: "Dieses ist gekennzeichnet durch das anfallsweise Auftreten von unwillkürlichen Körperbewegungen, Zuckungen, Kopfbewegungen, Armbewegungen, Schlagen auf die Brust und so weiter, aber auch häufig verbunden mit verbalen Äußerungen, teils unverständlich, teils aber auch in Form von Schimpfworten und Beleidigungen. Es wird versichert, dass diese Erscheinungen krankheitsbedingt sind. Eventuell hiervon Betroffene werden gebeten, eventuelle Kränkungen nicht persönlich zu nehmen und sie dem Patienten nachzusehen."

Leider seien die Symptome noch nicht wirklich in der Öffentlichkeit bekannt. Selbst Notärzte wüssten fast immer nicht, wie sie ihm helfen könnten, sagt Hurth.
Er schätzt, dass seine Tics körperlicher Art schon mehr als zehn Mal so extrem waren, dass ein Notarzt gerufen werden musste: "Dann bin ich kaum sprechfähig, habe gar keine Kontrolle mehr, schlage fester zu und schmeiße mich immer exzentrischer durch den Raum und komme aus dem Schreien nicht mehr raus. Es müssen mich mehrere Mann festhalten. Ich werde fixiert und bekomme Beruhigungsmittel gespritzt. Die haben schon gravierende Nebenwirkungen."
Und überhaupt, das mit dem Beruhigen: "Abends, wenn ich zu Hause alleine bin, muss ich mir Arme und Beine fixieren und ein Handtuch in den Mund stecken, da ich ansonsten noch mehr Ärger mit dem Nachbarn bekäme", sagt er.

Seine vokalen Tics sind das eine, doch er habe durch die extremen körperlichen Anfälle, Rückenbeschwerden, könne aber keine Physiotherapie machen: "Wenn der Therapeut dann sagt: Arm hoch, schlage ich ihn vielleicht nach unten. Aber ich bekomme Massagen. Dafür muss ich aber an die Massageliege gefesselt werden."
Das alles kostet Energie. Rund 8000 Kilokalorien am Tag braucht der 26-Jährige. Die Krankenkasse habe ihm aber die Kostenübernahme für konzentrierte Nahrungsergänzungsmittel zunächst nicht bewilligt. Er solle halt mehr Butter, Sahne und ähnliches essen. "Ich habe mir also morgens einen Mix mit drei Päckchen Butter, Sahne, Milch gemacht. Aber das bekam weder Magen noch Verdauung. Ich habe oft sehr starkes Sodbrennen gehabt. Ich muss halt essen wie eine vierköpfige Familie. Im Restaurant werde ich nie satt."
Nach zwei Jahren Kampf hat er die Zusage für die Kostenübernahme doch noch bekommen. "Ich bin froh mit den Nahrungsergänzungsmitteln. Das macht einiges leichter."

Er hat eine Ausbildung als Heilerziehungspfleger begonnen und in der Einrichtung für geistig Behinderte Maria Grünewald in Wittlich gearbeitet, bis die Tics so stark wurden, das auch das nicht mehr ging.
Er konnte kein Buch lesen, das wurde zerrissen. Einfach mit Freunden fernsehen ist sehr schwer, alleine Bahn fahren: geht nur selten.
Er sei großer Musical-Fan. Eins hat er gesehen: "Tanz der Vampire". Jetzt hofft er: "Vielleicht kann ich jetzt ins Phantom der Oper!"

Arbeit hat er aktuell keine. Der Betriebsarzt habe in der Ausbildung die Notwendigkeit einer Reha ausgesprochen, die Rentenkasse sie auch bewilligt. "Aber keine Klinik wollte mich. Der Ticpegel war einfach zu hoch angestiegen. Da hat sich keiner getraut, mich aufzunehmen", sagt Sebastian Hurth: "Es gab keine Medikamente mehr, die mir helfen könnten."
Er habe dann versucht, Sativex, ebenfalls auf Cannabis basierend, zu erhalten. Ein sehr teures Medikament für MS-Patienten. Aber die Kasse habe die Kostenübernahme abgelehnt: Einmal wurde der Erstantrag abgelehnt und daraufhin dann auch der Widerspruch.

Das sei Grundlage dafür gewesen, bei der "Bundesopiumstelle" (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM)den Antrag für das medizinische Cannabis zu stellen. Ein Arzt hat ihm eine sogenannte Einnahmeverordnung ausgestellt. "Ich bekomme das nicht verschrieben. Ich habe nur die Erlaubnis nach Paragraf 3 Absatz 2 des Betäubungsmittelgesetzes. Eine Ausnahmegenehmigung", sagt er. Dazu will er noch den Antrag auf Kostenübernahme stellen. Es gehe um rund 20 Gramm, die in der Apotheke 300 bis 400 Euro im Monat kosten, sagt er: "Aktuell bezahle ich für ein Döschen mit fünf Gramm circa 80 Euro."

Jetzt muss er abwarten, wie es mit dem Cannabis klappt. Mittlerweile ist er von Wittlich nach Saarburg umgezogen, wo auch seine Familie wohnt. Das erleichtere doch einiges.
Wie seine Wohnung aussieht? "Na, viel Plastikgeschirr", sagt er. Denn Tassen und Teller wirft er häufig um. Im Café bestellt er deshalb meistens "to go", also im Papp- oder Plastikbecher. Und beim Einkaufen geht er möglichst in der Gangmitte, damit er nicht plötzlich mit dem Arm ein Regal abräume, sagt er. Ansonsten gehe es ihm im Freien gut, er sei gerne im Wald unterwegs.
Zudem versuche er, seine Ausrufe zu steuern. Aber immer geht das nicht. Und was er so von sich gibt, ist halt gewöhnungsbedürftig. "Heil-Hitler-Rufe sind zum Beispiel leider ein sehr verbreiteter Tic bei Tourettern", sagt Sebastian Hurth.

Und: "Das kann man als Nicht-Betroffener kaum verstehen. Für den Außenstehenden ist das erst mal nicht witzig. Aber das Wesen der Tics ist, dass sie immer provokant sind. Ich trage deshalb zum Beispiel oft einen Schal, um ihn mir schnell in den Mund zu stecken, wenn ich merke, dass ich sonst was schreie", sagt er. Er betont: "Ich leide nicht unter Tourette. Ich lebe damit. Es ist vielleicht nicht heilbar, aber auch nicht lebensgefährlich."
Angefangen habe alles mit einem extremen Kopfzucken im Grundschulalter. ADHS war damals die Diagnose. Er bekam zunächst Ritalin, dann andere Medikamente. Irgendwann habe nichts mehr geholfen. Ungefähr seit vier Jahren habe er nun die massiven Tics.
Seither halte er zum Beispiel Vorträge in Schulen, informiere über das Syndrom, sei mit anderen Tourettern vernetzt.

Kindern etwa erkläre er, er habe eine Art Clown oder Kobold im Kopf, der ihn zu Unsinn anstifte: "Es ist ganz wichtig, dass die Menschen mehr über Tourette wissen. Und ich will zeigen, dass man damit leben kann. Ich würde mir schon wünschen, dass mich die anderen deshalb nicht mehr angreifen. Zu der wüstesten Beschimpfung zählt ,Unter Hitler wärst du vergast worden.' Am beliebtesten ist es eigentlich, mir ungehöriges Verhalten, schlechte Erziehung oder verminderten Geisteszustand zu unterstellen. Wenn man mich vernünftig fragt, erkläre ich das gerne. Leider ist Tourette noch nicht hinreichend erforscht. Es ist noch lange nicht alles darüber bekannt, denke ich. Das hat erst angefangen."

Immerhin. Seinen Clown im Kopf schaltet jetzt das Jointrauchen ab.
Wie lange das klappt, und ob er die Dosis steigern muss, weiß er noch nicht. Ob er für eine Legalisierung von Cannabis ist? "Für mich ist es Medizin. Ich fahre damit die Tics runter. Ich denke mal, es ist ganz klar, dass auf jeden Fall eine andere Lösung her muss, denn es kann bei vielen anderen Krankheiten helfen. Ob eine Legalisierung generell sein muss, da halte ich mich raus. Aber warum ist eigentlich Alkohol frei zugänglich?"Extra

Sebastian Hurth, dem eine Aufklärung der Öffentlichkeit über die immer noch recht unbekannte neurologische Erkrankung wichtig ist, erklärt die Erscheinungsformen des Tourette-Syndroms so: "Man hat mindestens zwei motorische und einen vokalen Tic. Sie müssen über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr bestehen." Dabei wird diese Form eines "Ticks" als Tic bezeichnet/geschrieben, eine Schreibweise aus dem Französischen, was sich auch auf den Namensgeber, den französischen Neurologen George Gilles de la Tourette bezieht. Der Mediziner beschrieb das Syndrom erstmals 1885. Heute schätzt man, dass ein Prozent der Menschen, dabei Jungen und Männer stärker als Mädchen und Frauen, davon betroffen sind, jedoch sind die Schweregrade sehr unterschiedlich. Es gibt alle möglichen Arten von Tics, die ganz individuell auftreten und sich ändern können. Die Ursachen sind noch kaum erforscht, es scheint festzustehen, dass der Botenstoffwechsel insbesondere im Hinblick auf den Neurotransmitter Dopamin bei den Patienten gestört ist. Das Tourette-Syndrom gilt aktuell als nicht heilbar. sosBaden-Baden/Saarburg.

Extra

 Nur mit Ausnahmeerlaubnis: Medizinisches Cannabis ist momentan das Einzige, was die massiven Tics dämpft. TV-Fotos: Sonja Sünnen (2)

Nur mit Ausnahmeerlaubnis: Medizinisches Cannabis ist momentan das Einzige, was die massiven Tics dämpft. TV-Fotos: Sonja Sünnen (2)

Foto: (m_wil )

Baden-Baden/Saarburg. "Jenseits der Norm" ist das Thema im nächsten Nachtcafé am Freitag, 20. Januar, 22 Uhr, im SWR-Fernsehen. Moderator Michael Steinbrecher begrüßt dazu unter anderem Sebastian Hurth (25) aus Saarburg, der mit dem Tourette-Syndrom lebt. Weitere Gäste der Sendung sind Annegret Raunigk (wurde mit 65 älteste Vierlingsmutter der Welt), Freddy (stellte Weltrekorde als Hochseilartist auf), ein Ponyplayer, der sich als Pferd verkleidet von seiner Frau dressieren lässt, Ulrich Weiner (geht nur im Strahlenschutzanzug in Ortschaften) und Christiane Heinicke, Teilnehmerin am bisher längsten Isolationsprojekt der Nasa. red

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