Holocaust-Gedenktag: Luxemburg und Belgien versuchen, die Vergangenheit neu aufzuarbeiten

Luxemburg/Esch-sur-Alzette · Erinnerungsarbeit ist ein Dauerprojekt für die Demokratie: Derzeit erlebt die Aufarbeitung des Dritten Reiches in der Großregion einen Schub, wie die aktuellen Initiativen in Luxemburg und Belgien deutlich machen.

 Das Plakat der internationalen Fachtagung „Fragen zur Zukunft der Gedenk- und Erinnerungsarbeit“ in Esch-sur-Alzette – seit vier Jahren ist viel Bewegung in die Aufarbeiterung der NS-Zeit gekommen. TV-Foto: Sabine Schwadorf

Das Plakat der internationalen Fachtagung „Fragen zur Zukunft der Gedenk- und Erinnerungsarbeit“ in Esch-sur-Alzette – seit vier Jahren ist viel Bewegung in die Aufarbeiterung der NS-Zeit gekommen. TV-Foto: Sabine Schwadorf

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Wenn heute der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust in vielen Ländern begangen wird, dann tritt für einen kurzen Moment wieder ein Zeitalter in den Fokus der Öffentlichkeit, das ansonsten vielfach als ausgeforscht gilt: das Dritte Reich, der Holocaust, die Vernichtung von Millionen Menschen. Doch in der Großregion rückt die Naziherrschaft, ihre Hintergründe und das Mitwirken vor allem Luxemburgs und Belgiens am Terror seit einiger Zeit stärker ins Bewusstsein. Und auch die Frage, wie politische Bildung aussehen muss, damit das Gedenken erhalten bleibt.Opfer-Legende widerlegt

Ausgelöst durch einen Historikerstreit vor vier Jahren um die Rolle der Luxemburger Behörden bei der Deportation hunderter jüdischer Kinder aus dem Großherzogtum, ist viel Bewegung in die Aufarbeitung eines der düstersten Kapitel des letzten Jahrhunderts gekommen. Der Zeithistoriker Denis Scuto hat die Debatte mit ausgelöst, als er von der "Legende der Resistenz des luxemburgischen Volkes gegen die Nazi-Okkupanten" spricht: "Was unbequem war, wurde eben nicht aufgearbeitet", sagt er. So hätten die Verwaltungen noch ein halbes Jahr nach dem Einmarsch der Nazis 1940 ins Großherzotgum weitergearbeitet.

"In der Luxemburger Zeitgeschichtsforschung hat es lange Jahre Stillstand gegeben", sagt Frank Schroeder, Direktor des nationalen Widerstandsmuseums (Musée national de la Résistance) in Esch-sur-Alzette. Vor zwei, drei Jahren habe es einen Paradigmenwechsel gegeben. Bei einer internationalen Fachtagung zur Zukunft der Gedenk- und Erinnerungsarbeit in Esch-sur-Alzette hat selbst Luxemburgs Premier Xavier Bettel gefordert: "Gedenk- und Erinnerungsarbeit darf sich nicht auf das Feiern von Gedenktagen beschränken."

Und in der Tat tut sich in Luxemburg einiges. Nach der peinlichen Absage des Ministerrats der für 2015 angekündigten Ausstellung zum Ersten Weltkrieg wegen zu hoher Kosten tut dies auch Not.

Politisch flankiert von einer Resolution der Abgeordnetenkammer von 2015, in der sich das Parlament bei der jüdischen Gemeinschaft für das Fehlverhalten Luxemburger Behörden im Zweiten Weltkrieg entschuldigt hat, wird aktuell ein Institut für Zeitgeschichte an der Universität Luxemburg errichtet.Neue Forschungsprojekte

Zudem gibt es ein neues Forschungsprojekt von Scuto und seinem Kollegen Vincent Artuso zur Einstellung und Politik der Staatsbehörden gegenüber Juden im und nach dem Dritten Reich sowie zur Behandlung von Rückkehranfragen, den Folgen von Enteignungen und neuerlichen Verbrechen gegen Juden in Luxemburg.

"Geforscht wird zu diesem Thema schon länger. Aber noch ist unklar: Wie bekommen wir es in die Köpfe der Menschen?", fragt Schroeder vom Widerstandsmuseum.

Im belgischen Lüttich setzt man mit dem Centre d'éducation à la Résistance et la citoyenneté (Bildungszentrum für Erinnerungskultur und politische Bildung) gerade auf Öffentlichkeit und politische Bildung. "Was einmal geschehen ist, kann sich wiederholen", ist Vize-Direktor Philippe Marchal überzeugt. Ob die belgische Partei Vlaamse Belang, die luxemburgische ADR oder die deutsche Pegida-Bewegung: Angesichts von immer mehr Rechtspopulisten in der Politik brauche die Gesellschaft "mehr bürgerliche Zivilcourage und Widerstand". Weil dies Konsens in Belgien sei, habe inzwischen jeder Schüler zwischen sechs und zwölf Jahren eine Stunde Bürgerkunde als Unterrichtsfach in der Woche. "Die Bürger sind nicht von Geburt an verantwortungsvoll. Man muss sie heranbilden", weiß Marchal.Keine einfachen Lösungen

Was gar nicht so einfach ist. Denn jungen Leuten fehlt es zum Teil an Grundwissen, stellen Mechthild Gilzmer (Universität Saarbrücken) und Sonja Kmec (Universität Luxemburg) fest. Und an den Grenzen der Großregion sei der Alltag weniger durch Widerstand und Kollaboration als durch Austausch und Überleben geprägt gewesen. Einig ist man sich auf allen Seite der heute nahezu grenzenlosen Großregion: "In der Demokratie gibt es keine einfachen Lösungen", sagt Frank Schroeder und Denis Scuto ergänzt: "Die Debatte muss und wird weitergehen."Meinung

Was empört Sie noch?Wofür würden Sie aktiv Widerstand leisten? Was würde Sie dazu bringen, auf die Straße zu gehen und für Ihre Ideale auch öffentlich einzutreten? Seien wir ehrlich. Viele von uns haben politische Bildung und demokratischen Bürgersinn mit der Schulzeit aufgegeben und es sich im Zustand der passiven Couch-Potato mit Untergrundgemurmel bequem gemacht. Viele Zeitgenossen nehmen Hass gegen Andersdenkende, Andersgläubige und gesellschaftliche Grundwerte einfach gleichgülitg und selbstverständlich hin. Dabei muss es doch jedem echten Demokraten in den Fingern jucken. Die Demonstration gegen das Treffen europäischer Rechtspopulisten in Koblenz und die Märsche gegen den neuen US-Präsidenten Donald Trump sind da positive, doch (noch) eher seltene Beispiele. Politische Gedenktage wie den heutigen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust mögen für den Einzelnen zum bloßen Selbstzweck verkommen sein. Und doch erinnern sie uns daran, wie kurz der Weg vom Populismus hin zur Täterschaft ist. Weil die Zeitzeugen des Dritten Reiches bald nicht mehr leben werden, um uns vor den Folgen von Ausgrenzung, Denunziation, Verfolgung und Vernichtung zu warnen, sind Tage wie der heutige, die Aufarbeitung der Vergangenheit wie nun auch in Luxemburg, der Besuch und Erhalt von Gedenkstätten wie Hinzert sowie politische Bildung und Bürgersinn, wie es Belgien für seine Jugend vorlebt, um so wichtiger. Damit aus Couch-Potatoes keine Mitläufer werden. s.schwadorf@volksfreund.deExtra

In Esch-sur-Alzette gibt es im Rahmen des Cycle Mémoire mehrere Veranstaltungen. Bis zum 25. Juni läuft im Musée national de la Résistance die Ausstellung "Meine Erinnerungen - Gedenken vermitteln, Zeugnisse der 2. Generation", eine Installation im Rahmen der 20. Auschwitz-Reise der Vereinigung Témoins de la 2e Génération über den Dialog zwischen Überlebenden des Holocaust und jungen Menschen. Die Kulturfabrik in Esch-sur-Alzette zeigt am Mittwoch, 8. Februar, den Film"Die Frauen von Ravensbrück", eine preisgekrönte Dokumentation über Überlebende von Frauen-Konzentrationslagern im Beisein der Regisseurin Loretta Walz. Anschließend ist eine Besprechung. sas

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