Der evangelische Kirchentag: Politische Bildung statt Revolte

Berlin · Die Zeiten, in denen auf Kirchentagen politische Themen heiß diskutiert wurden, sind großteils vorbei.

"Free Postcards" (kostenlose Postkarten) und "Free Hugs" (kostenlose Umarmungen) steht auf Zetteln, die zwei junge Leute in einer Halle des Evangelischen Kirchentages in Berlin in die Luft halten. Umgekrempelte Kartonverpackungen sind an eine Wand geheftet, an dem Stand geht es um Kunst und Gesellschaft, wie Katharina Largé und Kristof Tomasz erklären. Die Zeiten wilder politischer Proteste auf dem Christentreffen sind erkennbar vorbei, als etwa die Nachrüstung, Atomkraft oder Apartheid angeprangert und öffentliche Debatten vorangetrieben wurden.

Zwar trumpfte der Kirchentag dieses Mal mit Ex-US-Präsident Barack Obama auf und Spitzenpolitiker und publikumstaugliche Prominente wie Theologin Margot Käßmann und Melinda Gates, Philanthropin und Ehefrau von Microsoft-Gründer Bill Gates, geben sich ein Stelldichein. Und SPD-Chef Martin Schulz forderte, Politik müsse glaubwürdiger werden. Sonst folgten ein Vertrauensverlust und Populismus, wie ihn US-Präsident Trump praktiziere. Dessen Umgang mit Deutschland und Europa verurteilt Schulz als vollkommen inakzeptabel.Welche politische Relevanz aber hat der Kirchentag mit seinen über 2000 Programmpunkten sonst noch? Welcher Impuls soll von dem Berliner Treffen mit erwarteten 140 000 Besuchern ausgehen?

Am Eingang der Messehallen kommen die Kirchentagsbesucher an einem zweidimensionalen großen Papp-Panzer vorbei. "Keine Panzer für Erdogan" lautet der Slogan, angeprangert wird der Rüstungshersteller Rheinmetall, der türkische Panzer modernisieren möchte. Wer näher hinschaut, sieht: Der Protest kommt nicht von einer kirchlichen Gruppierung, sondern der Bewegung campact, die beim Zustrom Zehntausender Besucher auf Aufmerksamkeit setzt. Bald darauf ist der Panzer schon beseitigt.

An viel aufgewühltere Kirchentage vor Jahrzehnten erinnert sich das Rentnerpaar Gertrud und Albert Röttering, die aus der Grafschaft Bentheim nach Berlin gekommen sind. "Frieden schaffen ohne Waffen oder die Atomdiskussion bewegten die Besucher", erzählt die Frau. Der RAF-Terrorismus und eine Verteufelung der Polizei hätten eine Rolle gespielt. Heute sei die Thematik nicht mehr so griffig wie früher, die Auswahl riesig. Klar sei aber auch: "Kirche ohne Politik geht auch nicht."

Dabei sind große Dauerthemen der Kirche, globale Gerechtigkeit etwa oder Nächstenliebe in vielfältigen sozialen Projekten, überall in den Hallen und auf Diskussionsforen präsent. Die Politik, an die sich früher wie jetzt der Ruf zum Handeln richtet, ist aber inzwischen teils Mitgestalter des Kirchentags geworden. Auf einem Stand des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geht es um eine Welt ohne Hunger und deutsche Hilfe für Afrika. "Es ist eine politische Frage", der private Umstieg auf Fairtradeprodukte allein werde dem Kontinent nicht aus der Misere helfen, referiert Ulrich Post von der Deutschen Welthungerhilfe.Extra: OBAMA UND SEIN KAFFEEBECHER


Schon als US-Präsident lief Barack Obama ständig mit einem Kaffeebecher in der Hand herum. Diese Angewohnheit hat er auf dem Kirchentagspodium mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht aufgegeben. Die Krippe zu Bethlehem aus braunen Plastiksteinen, Josef in Ägypten mit gelbem Plastikkopf: Am Rande einer der Messehallen des Kirchentags werden Bibelszenen mittels Legosteinen zum Leben erweckt. Eifrig bauen Kinder mit den bunten genoppten Bauelementen ihre Lieblingsgeschichte nach. Eine Schweigeminute für Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa ums Leben kamen, wurde bei einer Veranstaltung mit Innenminister Thomas de Maizière (CDU) jäh unterbrochen. "Ich schweige nicht — das, was hier geschieht, ist Unrecht und eine Heuchelei", rief ein Mann. "Westlicher Kolonialismus" sei schuld daran, dass Menschen aus Afrika nach Europa kämen. (dpa)

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