"Es gibt immer einen Weg"

THOMM. Dass Sina (alle Namen der Kinder geändert) trotz ihrer rechten halbseitigen Lähmung immer wieder einen Weg findet, die Sprossenwand hochzuklettern, oder beim Basteln uneingeschränkt mitmacht, ist für die Kinder ohne Behinderung eine Lebensschule. Sie lernen: "Es gibt immer einen Weg." Entwicklungsverzögerungen werden häufig erst spät erkannt.

Dass Sina und weitere vier Kinder in der integrativen Gruppe im Kindergarten Thomm eine Behinderung haben, interessiert die weiteren zehn Spielkameraden reichlich wenig. "Es ist halt so, dass Sina das Bein nach zieht oder einige Kinder aus der Gruppe Hilfestellungen brauchen, wenn sie sich beispielsweise alleine anziehen sollen, um raus zu gehen", sagt Erzieherin und Standortleiterin Monika Molter-Ott.Gemeinsam Schritte wagen

Dass die Kinder sehen, wie Sina beispielsweise trotz ihres Handicaps Wege findet, sich die Sprossenwand hochzuziehen, spornt die Kinder ohne Behinderung an, auch Möglichkeiten zu finden, Dinge zu tun, die anfangs vielleicht etwas schwierig erscheinen. Umgekehrt hat Tom - er hat eine starke Sehbehinderung - während des Turnens mitbekommen, wie viel Spaß die andern Kinder haben, wenn sie auf allen Vieren durch einen Spieltunnel krabbeln. "Für Tom war es eine große Herausforderung, sich auf das Kriechen durch den Spieltunnel einzulassen", sagt Monika Molter-Ott. Er hat es geschafft und war unglaublich stolz. Auch seine Mutter ist davon überzeugt, dass er den Schritt ohne die anderen Kinder nicht gewagt hätte. Die Kinder mit Behinderung "stehen unter dem Schutz der ganzen Gruppe, und die Kinder lernen, so Rücksicht auf Mitmenschen zu nehmen und tolerant zu sein", so Molter-Ott. Sie begreifen schnell, "es gibt nicht nur den einen Weg, das Leben zu leben", sagt Susanne Fuchs, Leiterin der integrativen Kindertagesstätten unter der Trägerschaft der Caritas, worunter auch der Kindergarten Thomm steht.Entwicklungsverzögerungen schwer erkennbar

Insgesamt stehen in der Einrichtung zehn Ganztagsplätze für Kinder zur Verfügung, die eine spezielle Förderung brauchen. "Der Kindergarten ist häufig die erste Instanz, die Eltern darauf hinweist, dass die Entwicklung des Kindes verzögert ist", so die Erfahrung von Susanne Fuchs. Die späte Diagnostik erkläre sich laut Fuchs damit, dass Entwicklungsverzögerungen im Gegensatz zu Defiziten im motorischen Bereich schwerer zu erkennen seien oder gehofft wird, dass "es sich auswächst." Viele Eltern seien erst einmal geschockt und wollten nicht wahr haben, dass ihr Kind einer speziellen Förderung bedarf. Auch Sinas Mutter hat einen langen inneren Kampf ausgefochten, bis sie sich zu dem Schritt entschließen konnte, ihr Kind in dem integrativen Kindergarten anzumelden. Ihre Fragen: "Was werden die Nachbarn sagen?" - "Ich will doch, dass mein Kind in den Kindergarten vor Ort geht und dazugehört." Heute ist sie zufrieden, diesen Entschluss gefasst zu haben. Für Sina haben die Erzieherinnen einen individuellen Hilfeplan erstellt. Über das Kontaktheftchen werden ihre Eltern täglich informiert, wie der Tag für ihre Tochter verlaufen ist. Die Erzieherinnen haben auch ein offenes Ohr für die Probleme der Eltern. "Viele Eltern plagen sich mit Schuldgefühlen", sagt Susanne Fuchs. Durch Gespräche helfen die Erzieherinnen den Eltern. "Es ist schwer, von dem Wunsch, ein Kind ohne Behinderung zu haben, Abschied zu nehmen", so Fuchs. Die Kinder in den beiden integrativen Gruppen werden Schritt für Schritt an größtmögliche Selbstständigkeit herangeführt. Sie erleben bei sich und anderen Stärken und Schwächen, unterschiedliche Verhaltensweisen und Andersartigkeiten. "Wir heben das hervor, was die Kinder können, und fördern sie in den entscheidenden ersten Jahren, damit sie gute Startbedingungen haben", sagt Susanne Fuchs. Sina freut sich über die Einladung zu einer Geburtstagsfeier. Und ihre Mutter freut sich, dass ihre Tochter sehr gemocht wird.

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