Musen-Küsse und Streifenhörnchen

TV-Reporter Andreas Feichtner berichtet von seinen ganz persönlichen Eindrücken bei Rock am Ring. Noch bis Sonntag feiern über 80000 Rock-Fans am Nürburgring. Teil 1: der Freitagabend

Im Grunde müsste man sich mehr Zeit nehmen. Für alles. Bei Rock am Ring würde das bedeuten: Spätestens am Donnerstag anreisen. Da war das Wetter noch so richtig schön beschissen: Regen und Kälte - wie es der Ringrocker kennt und mag. Da kann man sich mental drauf vorbereiten. Den Körper schon darauf einstellen, dass der Kindergeburtstag, den er den Rest des Jahres feiern darf, mal aussetzt. Bier am Mittag, ach was, zum Aufstehen. Jede Menge Musik, sich Fallenlassen, abschalten, neue Leute kennenlernen. Sich das allmorgendliche Hals-blutig-Rasieren mal schenken. Hört sich gut an. Ist beim mir natürlich die halbe Wahrheit. Denn es ist Samstagmittag, und ich habe weder Restalkohol noch aktuelle Biere zu verwalten. Denke an die Bands gestern. Wie war der erste Tag? Nicht überragend, aber sehr okay. Billy Talent sollen auf der Centerstage richtig gut gerockt haben, berichten Kollegen. Parallel dazu habe ich aber Razorlight gesehen, die Band um Sänger Johnny Borrell, der irgendwo Sexsymbol sein soll, obwohl sich mir das nicht so ganz erschlossen hat. Lag vielleicht am eher schlecht sitzenden weißen Shirt, das er sich offenbar selbst mit schwarzem Edding bekritzelt hat, damit es nicht ganz so Nachthemd-mäßig rüberkommt. Wie auch immer: Für den persönlichen Auftakt waren die Engländer okay. Wenn jedes Stück ein "Don't go back to Dalston" wäre oder ein "Golden Touch", dann wäre Razorlight noch besser. Wieder rüber zur Centerstage - Muse steht an: Die haben zwar erst vor einer Woche in der Rockhal Esch gespielt. Aber der Auftritt war schon so gut, dass man sich die Drei getrost noch mal anschauen kann. In der Tat: Auch der Ring-Auftritt der Engländer ist der Hammer. Allein Matthew Bellamy, Kopf der Band: Bei "Newborn" setzt er sich an den Flügel, die Gitarre um den Hals, spielt das Intro à la Rachmaninov und legt einen Takt später mit dem E-Gitarren-Riff los. Solche Leute sind vielleicht schuld daran, dass ein paar Jungspunde bei Mama um eine Weihnachtsgitarre betteln. Aber bei Bellamys Gitarrenzauber (manchmal ein bisschen angelehnt an Tom Morello von Rage Against the Machine) kann langjährigen Gitarristen die Lust auf die Saiten vergehen. Es gibt eben Unterschiede zwischen Kunst und reinem Handwerk. Muse spielten dabei gar nicht mal lange - vielleicht 75 Minuten. Aber das reicht, um einen denkwürdigen Gig hinzulegen. Musikalisch spielt die Band in der Rock-Champions-League. Bombastisch. Fast übertrieben. Manchmal mag das Pathos dabei ein bisschen dick gepinselt sein, beim Anfang von "Invincible" etwa. Mit dem Auftritt hat Muse die Messlatte für den Ring-Samstag und Sonntag aber mächtig hoch gelegt. Die Engländer spielen übrigens bald zwei Mal in Folge in der neuen Wembley-Arena in London. Wenn da jemand von euch dabei sein kann: herzlichen Glückwunsch! Am Freitagabend gab es dann denn ersten Gewissenskonflikt. Mit den hippen Kollegen auf der Alternastage die Arctic Monkeys sehen? Die Band ist immerhin der lebende Beweis, dass man in England auch groß rauskommen kann, selbst wenn der Sänger aussieht, als würde er im Clearasil-Spot den "Vorher"-Teil übernehmen. Bei deutschen Sing-Sang-Castings würde da wohl selbst Triers "Friede im Himmel"-Kultstar Grandmaster Flesch locker weiter kommen. "I bet you look good on the dancefloor" ist ein klasse Stück der Arktik-Affen. Trotzdem bin ich weg. Rüber zur Centerstage. Zu Linkin Park. Niemand hat mich dahin gezerrt oder geprügelt. Im Gegenteil: Die hippen, kopfschüttelnden Freunde werden mich deshalb wohl für den letzten Vorstadt-Bauern halten. Pah! Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem man sich nicht mehr für alles schämen muss: Ich mag LP. Pushing me away, Breaking the habit und so. Kann ich zu Hause gut hören. Die dosierte Aggression für den weißen Mittelstand. Also extra für mich und uns (schon klar: nicht für dich). Deswegen würde ich gerne von einem super Konzert berichten. Kann ich aber nicht. Die Stimmung war dabei durchaus gut, die Leute sind abgegangen. Aber für mich war es einzige Enttäuschung. Weil es extrem unextrem war: Nicht laut, nicht leise. Nicht aggressiv, nicht brav. Im Grunde totaler Mainstream. Souverän, nicht cool. Ordentlich gespielt, aber nicht außerordentlich. Pushing me away, ein Stück, das Hass braucht, gibt es in der Akustikvariante. Ich wartet darauf, dass es los geht. Aber nichts passiert. Das ist bei den White Stripes ähnlich, die später auf der Alternastage spielen. Der Typ neben mir, der sich nach fünf Liedern mit gleichem Leg-dich-ruhig-hin-Schlagzeug abdreht, meint zum seinem Kumpel: "Hab doch gesagt, dass die live kacke sind." So würde ich das natürlich nicht sagen. Aber für lauten Widerspruch sind mir weißen Streifen-Hörnchen dann doch zu zahm. Muse hat für einen gelungenen Abend gesorgt. Das ist sehr in Ordnung für den Auftakt. AF

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