Kunstgeschichte (n)

Immer wenn Mama Onkel Fritz besucht, gibt es Streit. Mamas Bruder hat sich nämlich ein neues Bild gekauft.

Darauf ist ein dicker nackter Mann zu sehen, der außerdem noch ziemlich ungewaschen aussieht. Das ist ja entsetzlich unästhetisch", regt sich Mama jedes Mal auf. Sofort ist Onkel Fritz beleidigt. Denn in Sachen Kunst versteht er keinen Spaß. Er widerspricht sofort energisch: "Das ist ein sehr gutes Bild, durchaus ästhetisch, auch wenn der Mann nicht schön ist." Streng schaut er seine Schwester an: "Ästhetisch ist im Übrigen nicht dasselbe wie schön." Onkel Fritz hat recht. Wie Mama machen es viele Leute, nicht nur, wenn es um Kunst geht. Sie setzen das Wort ästhetisch mit schön gleich. Zum Beispiel bieten eine Menge Ärzte "ästhetische Operationen" an. Gemeint sind damit Operationen, die Leute schöner machen sollen. Was nicht schön ist, gilt demnach als unästhetisch. In Wirklichkeit bedeutet ästhetisch (abgeleitet vom Hauptwort Ästhetik) aber viel mehr. Das Wort ist griechisch und heißt so viel wie "wahrnehmen" oder "empfinden". Ästhetisch ist demnach in der Kunst alles, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen und fühlen. Ob ein Bild ästhetisch ist, hat also im Grunde gar nichts damit zu tun, ob das, was darauf zu sehen ist, schön oder hässlich ist. Dass ein Bild oder ein anderes Kunstwerk "ästhetisch" ist, liegt einfach daran, dass man es mit den Augen sehen kann, und dass man beim Sehen Gefühle entwickelt. Dabei ist es egal, ob wir begeistert oder abgestoßen sind. Dass in der Umgangssprache ästhetisch mit schön gleichgesetzt wird, ist ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. Bis dahin gab es noch Regeln dafür, wie etwas auszusehen hatte, das schön war. Dazu gehörte zum Beispiel, dass Menschen keine zu langen Arme oder Beine haben durften oder Körper, die wie Ausrufezeichen in die Luft ragten. So etwas wurde für hässlich und damit für "unästhetisch" gehalten. Die Bilder einer berühmten Gruppe Künstler, die Expressionisten hießen und so malten, wurden deshalb vor gut 100 Jahren als scheußlich und "unästhetisch" beschimpft. Übrigens spricht man auch in der Musik von Ästhetik. Auch Musik wird ja mit allen Sinnen empfunden. Wie es funktioniert, dass man etwas als schön oder schrecklich wahrnimmt, darüber zerbrechen sich schon jahrhundertelang die Wissenschaftler die Köpfe. Eva-Maria Reuther

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