Kolumne: Die Vermessung des Ichs

Trier · Männer haben es nicht leicht. Vor der Geburt unseres Kindes habe ich gemeinsam mit meiner Frau zugenommen, quasi aus Solidarität. Während die meisten Frauen nach der Schwangerschaft schnell wieder abnehmen, bleiben wir Männer auf unseren Pfunden sitzen.

Rein volkswirtschaftlich gesehen ist das katastrophal. Übergewicht führt langfristig zu Krankheiten wie Bluthochdruck und kostet die Kassen und damit alle Versicherten Unsummen. Damit ich der Versichertengemeinschaft einmal nicht zur Last falle, quäle ich mich deshalb seit anderthalb Monaten laufend durch den Wald. Natürlich kontrolliere ich mich dabei mit einem Programm (App) auf meinem Handy. Mit dessen Hilfe kann ich nicht nur meine Läuferqualitäten analysieren, sondern erhalte interessante Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Menschen.

Dank des Angebots der Firma Jawbone Up weiß ich jetzt beispielsweise, dass ich super nach Tokio passen würde. Die Menschen dort schlafen auch nur so lange wie ich zurzeit, so ungefähr fünf Stunden und 44 Minuten. Auch wenn bei mir die Gründe eher babybedingt sind. Oder, dass die Berliner im Schnitt erst um 23:59 Uhr ins Bett gehen: Auch das eine Zeit, die mir nicht fremd ist. Nebenbei gesagt ist das Geschäft mit den Apps mittlerweile ein Milliardenmarkt. Allein die Deutschen haben im vergangenen Jahr etwa 550 Millionen Euro für Programme auf ihren Handys und Tablets ausgegeben. Tendenz stark steigend.

Auch bei der Selbstanalyse sind die Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt. Der Exzentriker, Unternehmer und Multimillionär David Asprey hat die Selbstoptimierung eine Zeit lang auf die Spitze getrieben. Er ließ seine Schritte, Kalorien, Arbeitsabläufe und sogar seine Schlafqualität mit Apps vermessen und wurde so zu einer Art Vater der Self-Tracker-Bewegung in den USA. Angeblich hat Asprey seinen IQ damit um 20 gesteigert und 50 Kilogramm durch Trinken von Kaffee mit Butter abgenommen. Da mag einiges geflunkert sein, der Trend zur Selbstvermessung ist aber auch bei uns nicht mehr aufzuhalten.

Der Kerngedanke dahinter ist, dass Menschen leistungsbewusster sind, wenn sie beobachtet werden. Das passt wunderbar zum Motto des Silicon Valley, nachdem es für jedes Problem eine Lösung gibt, wenn nur genügend Daten vorliegen. Doch auch die beste Vermessung des Ichs bringt nichts, wenn der innere Schweinehund der Selbstoptimierung im Weg steht. Dann lässt sich zwar statistisch super belegen, dass man die Unlust am Laufen mit 80 Prozent der deutschen Bevölkerung teilt, allein beim Wunsch Gewicht zu verlieren, hilft das nicht weiter.
t.zeller@volksfreund.de

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