Ein intimes Stück Literatur

Im Frühjahr 1964 reist der zwölfjährige Hanns-Josef Ortheil zusammen mit seinem Vater nach Berlin. Wie schon ein Jahr zuvor, als die beiden mit dem Rad an der Mosel unterwegs waren, macht sich der Junge Notizen, die er später, zu Hause in Köln, zu einem "Reisetagebuch" ausführt und seinem Vater zu Weihnachten schenkt. Dieses Werk hat der mittlerweile 63 Jahre alte Hanns-Josef Ortheil, einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur, nun veröffentlicht.

Ein erstaunliches Lesestück ist dieser "Roman eines Nachgeborenen". Es ist eine Reise in die Vergangenheit seiner Eltern, die 1939 in die Hauptstadt zogen. Es ist die erste Berührung des Zwölfjährigen mit dieser Zeit, und vor allem eine emotionale Annäherung an das damalige Leben seiner Mutter, die dort viel Zeit allein verbrachte und im Abstand weniger Jahre zwei Kinder verlor.

Nach und nach erfährt der Junge von seinem Vater und durch die Lektüre der Haushaltsbücher, die seine Mutter damals geschrieben hat, von früher. Manchmal kämpft er gegen das Weinen an, was ihm nicht immer gelingt, "weil die Tränen zu stark sind und einfach von selbst kommen. Als durchbräche viel Wasser einen kleinen Damm. Als schütteten die Augen ganze Staubecken mit Wasser aus".Es ist ein sehr reines, intimes Stück Literatur, das der "Bub" frei und ohne Gedanken an einen anonymen Leser schreibt. Fast fühlt man sich als Eindringling in eine familiäre, schützenswerte Gefühlswelt. Zugleich eröffnet das Tagebuch einen Blick auf Berlin kurz nach dem Mauerbau, beschrieben von einem hellwachen und wissbegierigen Jungen, dessen treffsichere Analysen über das Leben im Osten der Stadt, das Funktionsprinzip Berliner Eckkneipen oder das Dasein der Zootiere den Leser oft zum Schmunzeln bringen. Ariane Arndt-Jakobs

Hanns-Josef Ortheil: Die Berlinreise - Roman eines Nachgeborenen; 288 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München 2014; 16,99 Euro.

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