Shining: Der Mann mit der Axt

Winnetou, Robin Hood, Harry Potter oder James Bond – die Literatur hat viele Helden hervorgebracht. Allerdings: Nicht immer müssen es die Hauptcharaktere sein, die uns als Leser am meisten faszinieren. Und nicht immer sind es die „Guten“, die uns in ihren Bann ziehen. Mit „Mein literarischer (Anti)Held“ startet der TV neben Lieblingsbüchern, Neuerscheinungen und Hörbüchern eine neue Rubrik der Literaturkolumne. Darin widmen sich TV-Redakteure ihren ganz persönlichen Helden und Antihelden. Heute: Jack Torrance aus Stephen Kings Roman „Shining“.

Es ist sehr leicht, Jack Torrance zu verurteilen - vor allem seit Stanley Kubricks Verfilmung von Stephen Kings Roman, in der Torrance von einem irre grinsenden Jack Nicholson gespielt wird. Er hat seine Frau Wendy und seinen kleinen Sohn Danny im Suff geschlagen, er ertrinkt im Selbstmitleid, er hat völlig irreale Vorstellungen von seinem Talent als Schriftsteller. Und am Ende jagt er seine Familie durch die Gänge eines verlassenen Hotels. Mit einer Axt in der Hand.

Doch Jack ist nicht der zum Monster mutierte ewige Verlierer, zu dem Kubrick ihn in seinem Film gemacht hat. Stephen King hat keinen klischeehaften bösen Killer erschaffen. "Shining" ist nicht nur ein atmosphärisch großartiger und bahnbrechender Horror-Roman, sondern auch eine für dieses Genre - den Horror - erfreulich komplexe und dreidimensionale Charakterstudie. Denn Torrance ist nicht grundsätzlich böse. Aber er ist schwach - und in "Shining" skizziert der ebenfalls jahrelang drogen- und alkoholabhängige Stephen King den verzweifelten Kampf eines Mannes gegen diese Schwäche.

Die Idee, mit Frau und Kind den Hausmeister in einem eingeschneiten und isolierten Hotel in den Bergen Colorados zu spielen, ist für Jack ein großer Schritt. Er ist trocken, er hat einen vernünftigen und bezahlten Job, er kann an seinem Drama arbeiten. Doch seine Schwäche besiegelt sein Ende. Denn das Hotel ist ein Ort, an dem Böses geschehen ist. Böses, das Spuren hinterlassen hat. Und Jack, der an der Welt verzweifelnde Alkoholiker, ist empfänglich für diese Spuren.

Jack ist weder ein williges Opfer noch greift er sofort zur Axt. Die Geister der bösen Vergangenheit des Hotels erscheinen ihm und konfrontieren ihn mit dem realen Horror: seiner harten Kindheit mit einem brutalen Vater, seiner Alkoholsucht, seinem Selbsthass, nachdem er die Hand gegen seine Familie erhoben hat, und seiner Angst vor der Zukunft. Er kämpft, doch er verliert.

Am Ende jedoch, als der bereits in den Wahnsinn getriebene Jack seinen Sohn Danny töten will, kämpft sein wahres Selbst sich kurz an die Oberfläche zurück und lässt den Kleinen entkommen. Jack stirbt mit dem Hotel. Er hat den Kampf gegen seine Schwäche und damit gegen das Böse verloren. Aber er hat bis zuletzt gekämpft.

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