Biedermann und Brandstifter

Armut in einem der reichsten Länder der Erde ist auch immer ein Armutszeugnis für die herrschende Politik. Sie hat bei der Herstellung von Gerechtigkeit versagt.

Kein Wunder, dass die Bundesregierung ihren jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht deshalb eher verschämt in die Öffentlichkeit tröpfeln lässt. Insbesondere für die SPD ist er eine schallende Ohrfeige. Schließlich sitzt sie schon seit zehn Jahren an den Schalthebeln der Macht. In dieser Zeit ist die Kluft zwischen Arm und Reich stetig gewachsen. Dabei hat die Zahl der Erwerbstätigen mit rund 40 Millionen einen neuen Höchststand erreicht.

Was auf den ersten Blick paradox anmutet, wurde von Rot-Grün und später Schwarz-Rot nach Kräften gefördert. Etwa, indem die Zumutbarkeitsregelungen für die Aufnahme einer Tätigkeit gesenkt wurden. Wenn der Bericht aus dem Hause von SPD-Arbeitsminister Scholz den dramatischen Ausbau des Niedriglohnsektors jetzt "besorgniserregend" nennt, dann drängt sich der Vergleich zu Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" auf: Man sieht das Problem, ist aber zu ängstlich, etwas dagegen zu tun. Der Lohndruck im unteren Bereich ließ auch die Einkommen der Mittelschicht stagnieren. Dort ist die Angst vor dem sozialen Abstieg am stärksten. Bleibt nüchtern festzuhalten, dass Arbeit kein Garant mehr gegen Armut ist.

Vorschläge, diese Entwicklung aufzuhalten, gibt es reichlich. Die CSU will die Mittelschicht steuerlich entlasten, die SPD pocht auf Mindestlöhne und geringere Sozialabgaben, weil davon auch Niedrigverdiener etwas haben. Der DGB und die Linkspartei rufen nach einer höheren Reichensteuer. Und fast alle sagen, dass für Kinderbetreuung und Bildung mehr getan werden muss. Für sich genommen bleibt jede dieser Forderungen Stückwerk. Notwendig ist ein sinnvoller Mix. Ja, es stimmt, Bildung ist der Anfang von allem. Ohne einen ordentlichen Schul- und Berufsabschluss ist der Weg in die Armut vorgezeichnet. Auch die Entlastung der Durchschnittsverdiener ist gut und richtig, damit vom Brutto endlich wieder mehr Netto übrig bleibt. Wer sich mit solchen Entlastungen beschäftigt, kommt an einer Umverteilung von oben nach unten nicht vorbei. Beispiel Erbschaftsteuer. Es ist ein Skandal, dass die Union darauf beharrt, auch nach der Reform dürfe das Aufkommen jährlich nicht mehr als vier Milliarden Euro betragen. Schätzungen zufolge werden allein bis 2010 rund eine Billion Euro vererbt. Tendenz stark steigend. Beispiel Vermögenssteuer. Diese Steuer wurde in der Ära Kohl beerdigt. Auch die SPD hat sich damit offenbar abgefunden. Das Geschrei bei einer Neuauflage wäre groß: "Dann verlassen alle Reichen das Land." Merkwürdig, dass von einer massenhaften Abwanderung Gutbetuchter aus Regionen mit höheren Steuersätzen wie etwa Skandinavien nichts bekannt ist.

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