Der Greis im Rollstuhl

Es gibt fraglos erhabenere Momente der Rechtsprechung als den Prozess-Auftakt gegen John Demjanjuk. Wenn ein greiser, von Alter und Krankheit schwer gezeichneter Mann im Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren wird, kommen fast zwangsläufig Zweifel auf am Sinn der ganzen Veranstaltung.

Welcher fast Neunzigjährige hat seine Vergangenheit noch so präsent, dass er ernsthaft in der Lage wäre, sich mit seiner persönlichen Schuld auseinanderzusetzen? Und falls es zu einer Verurteilung kommt: Wer wollte verlangen, dass er eine Strafe tatsächlich verbüßt, deren Sinn er schwerlich begreifen kann? Mal abgesehen davon, dass die Haftfähigkeit fast täglich schwindet.

Die Wahrscheinlichkeit, dass John Demjanjuk - den Nachweis einer Täterschaft vorausgesetzt - jemals Straftaten sühnt, ist gering. Die Gefahr, dass der Prozess platzt oder sich endlos quälend hinzieht, dass am Ende gar der Tatbeweis misslingt und ein Freispruch erfolgen muss, ist dagegen groß. Unter Effizienz-Gesichtspunkten hätte man wahrscheinlich besser die Finger von diesem Verfahren gelassen.

Aber da gibt es eben auch die andere Seite. Die vielen Opfer, die im Grunde zwei Mal getötet worden sind: erst durch ihre Mörder und dann durch die Ignoranz derer, die im Nachkriegs-Deutschland dafür zuständig gewesen wären, die Täter und ihre Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen. Und die Angehörigen der Opfer, die nicht nur mit dem Verlust ihrer Eltern, Geschwister, Familien fertig werden mussten, sondern auch damit, dass niemand daran schuld sein wollte. Sie haben alles Recht der Welt darauf, dass die Justiz wenigstens heute jeden denkbaren Versuch unternimmt, die Vorgänge von damals aufzuklären.

Das wird sich nicht darauf reduzieren können, festzustellen, ob John Demjanjuk tatsächlich einer der Todes-Schergen von Sobibor war. Die Kammer wird auch fragen müssen, warum andere Verantwortliche freigesprochen wurden. Die Verteidigung wird sie zwingen, auch Gericht halten über ihre eigenen Vorgänger in der deutschen Justiz. Und das ist gut so.

Das Gericht in München ist nicht zu beneiden. Es muss zügig verhandeln, sensibel, strikt rechtsstaatlich und formal fehlerfrei. Und das unter dem Blick der Weltöffentlichkeit. Aber es hat auch die Chance, mit einem sauberen Verfahren zu helfen, eine Wunde zu schließen, die noch längst nicht verheilt ist.

Vielleicht ist dann, wenn alles Klärbare geklärt ist, auch ein mitleidiger Blick auf den alten Mann im Rollstuhl möglich. Aber eben erst dann.

d.lintz@volksfreund.de

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