Die Handschrift der Kanzlerin

Angela Merkel fügt ihrem atemberaubenden politischen Aufstieg ein neues Kapitel hinzu: Zum zweiten Mal Kanzlerin und dabei auch noch den Koalitionspartner ausgetauscht - das hat kein Regierungschef auf Bundesebene vor ihr geschafft.

Doch was fängt Merkel mit ihrer zweiten Kanzlerschaft an? Es scheint, als sei sie selbst noch eine Suchende. Das ist ernüchternd, wenn man bedenkt, dass es sich bei Schwarz-Gelb doch angeblich um ihre Wunschkoalition handelt.

Viel ist darüber geunkt worden, unter Schwarz-Gelb breche die soziale Eiszeit aus. Um solche Befürchtungen zu zerstreuen, versprach Merkel schon am Wahlabend, eine Kanzlerin für alle Deutschen zu sein. Allerdings: Der vorliegende Koalitionsvertrag lässt auch die gegenteilige Interpretation zu. Ein Stufentarif im Steuersystem, die geplante Kopfpauschale im Gesundheitswesen, das klingt wie die Renaissance neoliberaler Glaubenssätze.

Nur durch eine Sozialdemokratisierung der CDU konnte Merkel jedoch ihren Machtanspruch behaupten. Insofern hat es Merkel tatsächlich versäumt, dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag noch stärker ihren Stempel aufzudrücken. Wenn Guido Westerwelle behauptet, die Koalitionsvereinbarung trage vornehmlich die Handschrift seiner FDP, dann ist das für die Union gefährlich. Die Liberalen sollten sich aber nicht in allzu großer Selbstgewissheit wiegen. An den Ministerpräsidenten der CDU könnten sie sich die Zähne ausbeißen. Einige von ihnen haben bereits klar gemacht, was sie von unverantwortlich üppigen Steuersenkungen zulasten ihrer Landesetats halten: nichts. Im Zweifel kann sich Merkel immer darauf zurückziehen. Im Ernstfall wird ihr auch nichts anderes übrig bleiben: Die Länderkammer ist durch eine klare Verhinderungsmehrheit ihrer eigenen Partei geprägt.

Dieses Kräfteverhältnis kennzeichnet Merkels zweite Kanzlerschaft. Es sind die Kräfte der gegenseitigen Blockade. Eine Überschrift für Merkels künftige Regentschaft erwächst daraus noch nicht. Dass die Kanzlerin selbst noch eine politische Vision entwickelt, ist zweifelhaft. Merkel ist eine hervorragende Mechanikerin der Macht. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Mag sein, dass das reicht. In Zeiten krisenbedingter Verunsicherung wären die allermeisten Deutschen wohl schon zufrieden, wenn die soziale Balance im Land nicht noch weiter in Schieflage gerät.

Merkel setzt ihre Hoffnung außerdem voll auf wirtschaftliches Wachstum. Gelingt das, wird sich beides miteinander verbinden lassen. Wenn nicht, geht Merkel als größte Schuldenkanzlerin der Bundesrepublik in die Geschichtsbücher ein.

nachrichten.red@volksfreund.de

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