Die Zeit, die bleibt

Das Bild von einem Tsunami ist gewaltig, wenn von den Problemen in der Pflege die Rede ist. Die Vorstellung von der zerstörerischen Riesenwelle beschreibt eindrücklich die Sorge angesichts der demografischen Entwicklungen, besonders in den ländlichen Regionen.

Dort wird die Gesellschaft im Verhältnis jung zu alt in den kommenden Jahrzehnten noch stärker altern als in den Städten. Gleichzeitig steigt hier wie da die Lebenserwartung der Menschen. Das bedeutet angesichts der Fortschritte in der Medizin zwar für viele Senioren eine lange Zeit mit hoher Lebensqualität. Wenn dann aber doch die Gebrechlichkeiten des Alters kommen, dann geballt und gleichzeitig. Multimorbidität ist der Begriff dafür, wenn zum Beispiel Diabetes, Herzschwäche, Gicht und Demenz gleichzeitig das Leben schwermachen.
An die Pflegenden stellt das oft so hohe Anforderungen, dass Angehörige der professionellen Pflege das Feld überlassen müssen. Vor allem im ambulanten Bereich ist diese aber getrieben von den dramatisch engen Zeitvorgaben. Wer schon einmal versucht hat, einem alten Herrn mit Schluckbeschwerden in 15 Minuten beim Mittagessen zu assistieren, weiß, wovon die Rede ist. Dieser Zeitdruck belastet die Fachkräfte sehr, er entmündigt nicht nur die Patienten und führt wesentlich zum schlechten Image des Pflegeberufs.
Viel zu wenige junge Menschen der eh immer kleiner werdenden demografischen Gruppe der unter 30-Jährigen entscheiden sich für die Pflege. Damit sich das ändert, sind nicht nur neue attraktive duale Studiengänge notwendig. Die Bezahlung muss besser werden. Vor allem aber muss die Bemessungsgrundlage für die Abrechnung von Pflegeleistungen so geändert werden, dass für eine würdevolle Pflege mehr Zeit bleibt. Andernfalls werden alle positiven Versuche der Politik, die Qualität der Pflege zu verbessern und neue Betreuungsmodelle zu finden, nicht den erhofften Erfolg haben. Die Erde bebt bereits. Es wächst die Angst vor dem Tsunami.
r.neubert@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort