Liberales Schicksalsjahr

Fast immer hat die FDP in Deutschland mitregiert, noch nie war sie seit der Gründung der Bundesrepublik nicht im Bundestag. Sie ist, was der HSV für die Fußball-Bundesliga ist: Urgestein.

Mitunter folgt im Fußball aber bei einem Abstieg der totale Zerfall eines Vereins. Dieses Schicksal droht den Liberalen.
Für die FDP geht es 2013 um die nackte Existenz. Schafft sie es im Herbst nicht in den Bundestag, dann sind all die Bundesprominenten, von Brüderle bis Westerwelle, von Bahr bis Rösler, sofort nur noch Ex-Politiker. Die Partei wird rasant Mitglieder verlieren, und einige der verbliebenen Kader werden der Verführung des antieuropäischen Populismus erliegen. Dann könnte diese historisch so bedeutsame Kraft schnell ins Sektierertum abrutschen.
Es wirkt nicht so, als würden die führenden Köpfe der Liberalen die existenzielle Bedrohung auch nur ahnen. Im Gegenteil. Im Vorfeld des traditionellen Dreikönigstreffens und gestern bei der Veranstaltung in Stuttgart selbst ist das überdeutlich geworden. Hinter den Kulissen und teilweise sogar schon auf offener Bühne wird in der Führung gegeneinander intrigiert, als gäbe es mehrere liberale Parteien, so dass man eine locker mal verzocken kann. In ihrer selbstzerstörerischen Leichtfertigkeit findet die Partei der Individualisten an ihrer Spitze keinen Gemeinsinn mehr.
Es war ein schleichender Prozess, der mit Guido Westerwelle begann. In den Oppositionsjahren hat sich die FDP einseitig dem Neoliberalismus, den freien Finanzmärkten und der Steuersenkung verschrieben. Das Symbol dafür ist die in der Regierungszeit sogleich beschlossene Steuerermäßigung für Hoteliers, gepaart mit einer Großspende von Mövenpick. Eine solche Politik passt nicht mehr in die Zeit, sie hat - im Lichte der Finanzmarktkrisen betrachtet - noch nie in die Zeit gepasst. Doch Philipp Rösler lernt daraus nicht, sondern wechselt die Linien und Losungen fast nach Belieben und ergeht sich in hilflosen, manchmal pubertären Profilierungsversuchen gegen die Kanzlerin und ihre CDU.
Man kann Rösler austauschen wie vor zwei Jahren Westerwelle. Aber was ist damit gewonnen? Die FDP braucht zuerst eine seriöse inhaltliche Strategiedebatte, ehe sie sich eine neue seriöse Führung sucht. Sie muss wieder bürgerlich werden. Unternehmerfreundlich, aber mit Herz. Marktwirtschaftlich, aber nicht libertär. Den Bürgerrechten verpflichtet, aber nicht blind für Gefahren. Leistungsorientiert, aber mitfühlend. Nach der Niedersachsen-Wahl, egal wie sie ausgeht, müssen die Liberalen schnellstmöglich mit dieser Arbeit der Neubesinnung beginnen, mit oder ohne Rösler. Sie werden einwenden, dass ein Bundestagswahljahr dafür ein denkbar schlechter Rahmen sei. Das stimmt. Aber danach könnte es zu spät sein.
nachrichten.red@volksfreund.de

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