Moral war gestern

Es ist verständlich, dass ein Unternehmen mitunter kein Interesse daran hat, wenn Interna nach außen dringen, Konkurrenten oder Journalisten frühzeitig etwas erfahren über zukünftige Strategien oder bevorstehende personelle Weichenstellungen.

Verständlich auch, wenn die Firmenleitung alles daransetzt, eine undichte Quelle ausfindig zu machen und ihr den Saft abzudrehen. Das ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern auch ihre Pflicht, um das Unternehmen vor Schaden zu bewahren. Allerdings: Mit rechten Dingen muss es bei der "Leck-Suche" schon zugehen. Genau in diesem Punkt scheinen es ehemalige Telekom-Verantwortliche offenbar mit Recht und Gesetz nicht so genau genommen zu haben. Monate-, wenn nicht gar jahrelang sollen Telefonverbindungen von Telekom-Führungskräften überwacht und mit Rufnummern von Journalisten abgeglichen worden sein. Das ist illegal, ein klarer Verstoß gegen Fernmeldegeheimnis, Pressefreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Besonders pikant sind die Vorwürfe, weil es sich bei der Telekom nicht um eine "Pommesbude" handelt, sondern den größten europäischen Telekommunikationskonzern; ein Unternehmen also, das über zig Millionen Kundendaten verfügt. Und offenbar beliebig darauf zugreift, wenn es dem eigenen Vorteil dienen könnte. Diese Schlussfolgerung jedenfalls könnte man nach Bekanntwerden der Bespitzelungsvorwürfe ziehen. Gewiss: Noch ist nichts bewiesen, eine Anklage nicht erhoben. Die Bonner Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und gestern die Konzernzentrale durchsucht. Nur: Wer den Verlauf ähnlicher Wirtschaftsaffären der jüngeren Vergangenheit kennt, ahnt, dass sich die Vorwürfe eher ausweiten als in Luft auflösen werden. Ein Gau für die Telekom, die ohnehin schon genug Probleme hat, weil ihr die Festnetz-Kunden seit Monaten in Scharen davonlaufen. Die mutmaßlichen Strippenzieher der Bespitzelungsaffäre sind längst von Bord, der Imageschaden, den sie angerichtet haben, ist enorm. Nicht nur für die Telekom. In Teilen der deutschen Top-Wirtschaft scheinen Moral und Gesetzestreue inzwischen antiquierte Tugenden zu sein, stattdessen regieren Raffgier und Skrupellosigkeit. Diverse Schmiergeld-, Überwachungs- und Steuerhinterziehungs-Affären lassen grüßen. Das einzig Positive daran: Irgendwann kommen die meisten Wirtschaftsskandale ans Licht der Öffentlichkeit. r.seydewitz@volksfreund.de

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