Wo Steinmeier Mut braucht

Tagespolitik kann der neue Bundespräsident, wie seine erste Rede im Amt zeigt. Aber hat er eine Botschaft, die über den Tag hinausweist?



Es war zu erwarten und ist auch nicht allzu schwer, dass der frühere SPD-Kanzlerkandidat und Außenminister in seiner Antrittsrede eine Lanze für die Verteidigung demokratischer Werte gegen die Populisten brechen würde. Steinmeier will den Begriff "Mut zur Demokratie" zur zentralen Botschaft seiner Präsidentschaft machen. Allerdings stellt sich die Frage, ob wir tatsächlich schon so weit sind, dass es "Mut" braucht, um für diese Werte einzutreten. Eher nicht. Bei uns wird niemand ausgegrenzt, gar bestraft, wenn er sich für Minderheiten einsetzt, für Wahrhaftigkeit in den Medien, für einen offenen Dialog, für Kompromisse. Im Ausland ist das vielerorts anders, und deshalb ist es gut, dass Steinmeier in Richtung Erdogan so klare Worte gefunden hat, klarer als bisher die Bundeskanzlerin. In Bezug auf Putins Russland und Trumps Amerika sollte er ähnliche bald folgen lassen.

Im Innern geht es um etwas anderes. Nämlich darum, jene Bürger, die angesichts von Trump, Brexit und AfD immer noch nicht aufgerüttelt sind, endlich zu wecken. Ihnen klar zu machen, was Deutschland verliert, wenn es seine Offenheit aufgibt, was Europa verliert, wenn es auf Nationalismus setzt, was die Welt verliert, wenn die Staaten gegeneinander agieren. Es muss um ein Ende der demokratischen Behäbigkeit gehen, die sich in über 70 satten Nachkriegsjahren beim Volk ergeben hat. Auch um Reformen und neue Beteiligungsmodelle, die die parlamentarische Demokratie wieder attraktiver machen. Es ist eher Mobilisierung angesagt als Mut. Und daneben schlichtweg aktiver Widerstand gegen Hetzer und Verleumder, die sich "Volk" nennen, aber eine Minderheit sind und große Teile des Volkes ausgrenzen wollen.

Immerhin gibt es ja schon erste Anzeichen, dass die aufgeklärten Bürger den Warnschuss gehört haben. Junge Leute engagieren sich wieder vermehrt, schließlich geht es beim Tauziehen mit den Rechtspopulisten um ihre Zukunft. Und die politische Klasse ist in der Ablehnung der Rechtspopulisten und der Verteidigung Europas so einig wie selten in einer Frage. Vielleicht braucht der neue Bundespräsident - wie die Politik insgesamt - selbst auch mehr Mut. Wie wäre es mit einer Teilnahme an einer Pulse-of-Europe-Kundgebung, Herr Bundespräsident, Frau Bundeskanzlerin? Oder mit demonstrativen Besuchen in nazidominierten Städten und Dörfern? Mit einem Ausbau der politischen Bildung in Schulen und Jugendeinrichtungen? Mit einer Stärkung antifaschistischer und antirassistischer Gruppen? Es gibt viel zu tun für die Demokratie. Packen Sie es an!

nachrichten.red@volksfreund.de

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