Altmodisch, rückwärtsgewandt, gefährlich

Politik

Zur Berichterstattung über die Leitkultur-Debatte:
Der Begriff der "Deutschen Leitkultur" hat wieder Konjunktur. Nachdem er für Jahre in der Mottenkiste verschwunden war, feiert er jetzt seine Auferstehung. Er wird nicht nur von rechten Parteien verwendet, sondern auch von Regierungsmitgliedern. Die Vokabel scheint mir sehr altmodisch, rückwärtsgewandt, ja gefährlich zu sein. In einer zunehmend globalisierten Welt gehört sie zu einem Wortschatz, der im Widerspruch steht zu unseren modernen, offenen Gesellschaftsformen und zu dem Menschenbild, das ihnen zugrunde liegt. Dieses Menschenbild versteht den Menschen als freies, autonomes, eigenverantwortliches Vernunftwesen, unabhängig von Herkunft, Rasse, Klasse oder Kulturkreis. Es wurde von den Philosophen der Aufklärung definiert und findet seinen Niederschlag in den Menschenrechten und in den Grundrechten unserer Verfassung. Dieses Menschenbild und die daraus abgeleiteten Menschenrechte, die die Freiheit und die Würde des Menschen respektieren, sollten die nationenübergreifende Leitidee für alle menschlichen Gemeinschaften sein. Alle Gesellschaftsordnungen, Ideologien und Religionen haben die Pflicht, diese Rechte und Werte, die erst ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, zu respektieren und ihre Priorität anzuerkennen. Aufgabe eines demokratischen Staates ist es, diese Rechte des freien Menschen zu garantieren und zu schützen und das mit großer Aufmerksamkeit und aller Konsequenz. Innerhalb dieses verbindlichen Rahmens können die unterschiedlichen Kulturen dann in friedlicher Vielfalt nebeneinander existieren.
Natürlich ist dies die Beschreibung eines Ideals, dem wir uns allenfalls kleinschrittig und über einen langen Zeitraum annähern können. Auf jeden Fall aber sollen und müssen wir alles unterlassen, was durch nationalistische Überbetonung der eigenen Kultur als "Leitidee" einen Herrschaftsanspruch erhebt und andere Kulturen abwertet. Das wäre ein fataler Schritt zurück in eine finstere Vergangenheit. Und das genau ist die Gefahr, die man mit dem Begriff "Deutsche Leitkultur" verbinden kann und verbinden muss. Natürlich ist damit nicht die Notwendigkeit infrage gestellt, dass jemand aus einem anderen Kulturkreis, der in unserer Gesellschaft leben möchte, dazu unsere Sprache erlernen und unsere Gesellschaftsordnung anerkennen und beachten muss.

Herbert Reichertz
Bleialf

Was bitte ist Leitkultur? Während im Jemen und in Ostafrika eine Hungerkatastrophe an unseren Augen vorbeirauscht, sprechen wir über unser Lieblingsthema: über die "Anderen", die, die nicht Biodeutsche sind, die, die nicht die Mehrheitsgesellschaft repräsentieren, die, die nicht so sind, wie wir sie gerne hätten. Aber wir vergessen eins, dass wir doch genauso sind wie die "Anderen", dass wir genauso Mensch sind und nicht anders, sondern gleich. Dennoch fordern wir eine Leitkultur, dass sich die "Fremden" gefälligst anpassen sollen, aber an was überhaupt? Was bedeutet Leitkultur? Hat sich da der Innenminister darüber überhaupt Gedanken gemacht, oder ist er schon im Wahlkampf? Ist Leitkultur Ei mit Spinat und mehligen Kartoffeln? Oder das Eintuppern von Essensresten? Bei Pegida spazieren und dann mit Aldi-Reisen in den Orient? Fünf Liter Wasser trinken?
Oder haben wir nicht schon eine Leitkultur? Eine, die nicht aus zehn Punkten besteht, sondern aus 19 Artikeln. Handgeben und Stylingtipps sind nicht dabei, sondern jene Werte, die uns ausmachen. Nicht die Burka oder das typisch "deutsche" Händeschütteln, als würden andere sich mit den Füßen begrüßen. Wir haben eine Leitkultur, die für alle gilt, die die Rechte der Menschen nicht verletzen und auch nicht antasten dürfen. Beginnend mit der Würde des Menschen, die nicht die Herkunft beschreibt, sondern seine Individualität bewahrt und respektiert. Oder die Religionsfreiheit, die es allen Glaubensrichtungen gewährt, sich ohne Unterdrückung nach den Prinzipien des Grundgesetzes frei zu entfalten.
Jeder, der eine Leitkultur fordert, vergisst, dass es bereits eine gibt, die auch für ihn selber gilt: das Grundgesetz. Wenn wir eine thesenartige Leitkultur fordern, die das Leben der Menschen einschränkt, um sie gesellschaftlich nach unserer Vorstellung zu formen, dann sind es keine Menschen, die wir formen, sondern Objekte. Menschen sind Individuen und lassen sich nicht formen, sie sind nicht alle gleich. Sie vertreten verschiedene Meinungen im politischen Spektrum, und das ist auch gut so. Wir leben nämlich in einer Demokratie, in der die Meinung aller respektiert wird, egal ob rechts oder links, konservativ oder sozial, hetero oder schwul - eben nach dem Grundgesetz und nicht nach einer Leitkultur à la de Mazière.
Maximilian Herzog
Minheim

Deutsche Leit- oder Leidkultur - das ist die Frage. Warum tun wir Deutschen uns so schwer mit diesem Thema? Hat das mit unserer Geschichte zu tun? Manche haben alles Leid der Welt, wenn sie diesen Begriff Leitkultur nur hören. Sie leiden, wenn es zum politischen Thema wird, warum auch immer. Bundesinnenminister de Maizière (CDU) hat dieses Thema aus wahltaktischen Gründen (was jeder wohl durchschaut) angesprochen.
Aber angesichts der nicht wegzudiskutierenden Verrohung unserer Gesellschaft, Kriminalität, Aggressivität, Egomanie, Respektlosigkeit, Unterwanderung unserer Werte, Missachtung des Grundgesetzes sowie geistigen, moralischen Verwerfungen unserer Politiker, wie auch deren Resistenz (Nanoeffekt) gegenüber Bürgerinteressen, ist es dringend notwendig, über eine deutsche Leitkultur zu diskutieren.

Eine Leitplanke der Orientierung zum Weg in eine (hoffentlich) soziale, humanistische Gesellschaft, damit wir nicht in ein Sodom und Gomorra abdriften. Das wäre zur Bundestagswahl doch mal ein spannendes Thema. Eine öffentliche Diskussion und Volksabstimmung darüber, wie wir in Zukunft leben wollen, was wir nicht wollen und was nicht unserer Kultur entspricht. Eine Diskussion bezüglich eines gerechten Steuersystems (Steuergerechtigkeit = soziale Gerechtigkeit), Finanz-, Gesundheits- und Rentensystems als elementare Grundlagen einer funktionierenden Gesellschaft dürfen dabei nicht fehlen. Die Kirchen, Religionen sollten sich bei dieser Diskussion raushalten, weil sie die Menschen mit ihren angeblichen "göttlichen" Eingebungen (kann doch jeder behaupten) indoktrinieren und somit für ihre Machtinteressen missbrauchen.
Eine Gesellschaft unterliegt ständigen Veränderungen, und somit ist es wichtig, dass auch die heranwachsende Jugend die Chance bekommt, gemeinsam mit den Erwachsenen ihre Zukunft, in der sie leben wollen, mitzugestalten.
Um dies zu gewährleisten und damit diese Diskussion keine Einmaligkeit wird, um anschließend in einer verstaubten Schublade zu verschwinden, muss das Thema Leitkultur grundsätzlich alle zehn Jahre (sollte im Grundgesetz verankert werden) neu diskutiert und per Volksabstimmung beschlossen werden. Ansonsten kann es passieren, dass uns (sofern nicht gewünscht) eine neoliberale US-Coca-Cola-Trump-Gesellschaft, Erdogankultur oder sonstige Extremgesellschaft aufgezwungen wird.
Hans-Joachim Selzer
Bernkastel-Kues

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