Auf einer Glatze Locken drehen

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Egon Kappes aus Zeltingen-Rachtig schreibt zur Ausgabe vom 16. Januar: Die "Kultur" sollte heute besser den Titel "deutsche Unkultur" tragen. Wollten Sie mit dieser Seite, die ich sonst sehr schätze, provozieren und Auswüchse deutscher Unkultur hoffähig machen? Es ist schon schlimm genug, dass das chaotische RTL-Camp immer noch seine Quoten bringt. Warum helfen Sie dabei mit? Aber auch die Fällung der Buche in Dresden ist ja mal wieder typisch. Da wird ein Jahrhundert-Baum bei der Planung der Waldschlösschenbrücke als Messpunkt auserkoren und dann geht kein Weg mehr daran vorbei. Er muss weg, da hilft kein Weltkulturerbe, kein Protest. Geplant ist geplant! Wenn einem schon derart das Lachen vergangen ist, bleibt nur noch übrig, über "Mensch Klinsmann" von Dieter Lintz zu schmunzeln. Ich hoffe auf mehr "Kultur"... Lieber Herr Kappes,vielen Dank für Ihre Zuschrift. Was ist Kultur? Eine Frage, an der sich die großen Geister abgearbeitet haben. Das Wort kommt aus dem Lateinischen. "Cultura" bedeutet Landwirtschaft, Feldbestellung, bebautes Land (abgeleitet vom Verb colere, colo, colui, cultus = pflegen, anbauen). Kultur ist also der Gegensatz zu Natur. Definitionen liegen im Dutzend vor. Der alte Goethe etwa sagte, es dürften beim Kultur-Begriff "weder die Kleidung noch die Ess- und Trinkgewohnheiten, weder die Geschichte noch die Philosophie, weder Künste noch die Wissenschaft, weder die Kinderspiele noch die Sprichwörter, weder das Klima noch die Landschaftsformen, weder die Wirtschaft noch die Literatur, weder das Politische noch das Private noch der Hinweis auf ‚Schäden durch Abholzung der Berge' fehlen".Mit anderen Worten: (Fast) alles ist Kultur. Das Goethe-Kriterium gilt im Prinzip für die thematische Bestückung der Kultur-Seiten einer modernen Zeitung - auf dieser "Bühne" ist (fast) alles möglich, von der klassischen Bildungsbürger-Hochkultur bis zum Trash, von der Opern-Diva Anna Netrebko in der Mailander Scala bis zum Schlager-Veteranen Bata Illic im Dschungelcamp. Die FAZ druckte vor einigen Jahren auf sechs Feuilleton-Seiten eine Sequenz des menschlichen Genoms ab: ACCCAA AGAACT ATAAAT CATGCT und so weiter. Der Gag bewirkte, dass plötzlich jenseits von Wissenschafts-Zirkeln über die Bio-Medizin debattiert wurde. Es geht aber nicht darum, etwas "hoffähig" zu machen. Sondern darum, die Kultur in ihrer wundersamen Vielfalt zu beschreiben, zu analysieren, zu kritisieren. In feuilletonistischen Betrachtungen, launisch, polemisch. Irgendwo zwischen Weltgeist und Zeitgeist. Die Lust an der Provokation gehört dazu. Neueren Theorien zufolge macht gerade die Undefinierbarkeit das Wesen der Kultur-Berichterstattung aus. "Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen", spottete der Schriftsteller Karl Kraus. Alles ist erlaubt. Manche Feuilletonisten legen es darauf an, für einen winzigen Kreis Eingeweihter, für ein höchst elitäres Publikum zu schreiben. Schöngeister wie Thomas Meinecke etwa, der in der "Zeit" über die "Drehungen und Windungen im Nach-68er-Zeitalter" im verquasten Kulturzirkus-Deutsch schwurbelte: "Positions-Verzwirbelungen, deren Dynamik unweigerlich jenen inzwischen automatisierten Teufelskreis spiraliger Paradigmen-Verflüchtigung heraufbeschwören musste, der es wiederum jedem poststrukturalistischen Mode-Geck erlaubt, sich mit Hilfe einer mystifizierten Meta- und Simulations-Begrifflichkeit auf einer Wendeltreppe der Meinungen beliebig hinauf und hinab, jedenfalls im Kreise zu bewegen." Alles klar!?Auf den Kultur-Seiten des TV findet sich derlei Hirnverzwirnung eher selten. Wir greifen die Themen auf, über die unsere Leser sprechen - und bemühen uns, in einer Sprache zu schreiben, die jeder versteht. Nach einem Wort des Staatswissenschaftlers Werner Sombart "ist alle europäische Kultur, die geistige nicht minder als die materielle, aus dem Wald hervorgegangen". Manchmal kehrt sie wieder in den Wald zurück - ins Dschungelcamp von RTL. Schönes Wochenende!Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur Lob, Kritik, Anregungen?E-Mail: forum@volksfreund.deBrief oder Postkarte:Trierischer Volksfreund, ForumHanns-Martin-Schleyer-Str. 854294 Trier

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