Bunte Blumen in grauer Zeit

Nach und nach verließen die Schwestern meiner Mutter das Haus, um ihre eigenen Familien zu gründen, denn ihre Männer waren aus dem Krieg zurückgekehrt, bis auf Tante Ännes Mann, der 1943 in Russland gefallen war. Sie zog jedoch auch mit ihren beiden Kindern wieder in die Stadt.

Deutschland war nach dem Krieg in vier Zonen aufgeteilt worden: die englische, amerikanische, französische und sowjetische Zone. Wir wohnten in der englischen Zone, was ich sehr wohl damals begriff.
Mit Spannung erwartet


Mit großer Spannung wurde die "Währungsreform" erwartet. Für die Reichsmark konnte man nach dem Krieg nichts mehr kaufen. Sie war praktisch wertlos geworden. Und dann war es soweit: Im Juni 1948 trat die Währungsreform in Kraft. Jeder Bewohner Westdeutschlands bekam ein "Kopfgeld" in Höhe von 60 D-Mark zugeteilt. Alle Sparguthaben wurden 10:1 umgetauscht. Aber wer hatte schon ein Sparguthaben? Ein Phänomen gab es allerdings. "Am Tage danach" waren plötzlich die Schaufenster der Geschäfte mit Waren gefüllt, von denen man vorher nur träumen konnte. Wir aber hatten, wie die meisten Menschen, nur unser "Kopfgeld" und mussten damit äußerst sparsam umgehen.
Mein Vater hatte keine bezahlte Arbeit, bei der er jeden Monat einen, wenn auch noch so kleinen, Lohn heimgebracht hätte. Wir hatten nur die Landwirtschaft, die kaum bares Geld abwarf. Nach der Korn-, bzw. der Kartoffelernte konnte etwas verkauft werden, was meistens aber für Düngemittel und Saatkorn oder Saatkartoffeln wieder verbraucht werden musste.
Meine Mutter verkaufte Milch oder Eier. Von diesem Geld konnte sie dann Zucker und andere notwendige Lebensmittel kaufen. An neue Kleidung oder Schuhe war kaum zu denken. Es musste immer wieder Altes aufgearbeitet und geflickt werden. Wiederum brach eine schwere Zeit an für meine Eltern und alle Menschen. Aber die Devise meiner Mutter lautete: "Wer sich nicht zu helfen weiß, der ist es nicht wert, dass er lebt." Also wurde auch diese problematische Zeit gemeistert. An Entbehrungen war man ja gewöhnt.
Auch mein Vater war sehr erfinderisch und scheute keine Mühe, um bares Geld zu verdienen. Den ganzen Winter hindurch, wenn in der Landwirtschaft nicht so viel zu tun war, fuhr er mit unserem treuen "Max" und dem Leiterwagen für die Elektrizitätswerke Holzmasten zu den einzelnen Orten, an denen sie gebraucht wurden. Die ganze Infrastruktur unseres Landes war im Krieg weitgehend zerstört worden. Mühsam musste alles wieder aufgebaut und instand gesetzt werden.

Ein kleines Erlebnis ist mir aus dieser Zeit in bleibender Erinnerung. Ich wurde eines Tages mit dem Fahrrad in die Stadt geschickt, um bestimmte Dinge für den Haushalt einzukaufen. Neben unserer Pfarrkirche St. Elisabeth gab es das Geschäft Sommer, in dem man Hefte, Bücher und anderes Schulmaterial kaufen konnte. Plötzlich entdeckte ich eine große Sammlung von Grußpostkarten mit herrlichen, bunten Blumenmotiven. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen! Ich war fasziniert und begeistert davon und kaufte für das ganze Geld, das ich hatte, diese Postkarten. Mein Hunger nach Farben, Büchern und schönen Dingen war in den düsteren, grauen Zeiten des Krieges und der Nachkriegszeit immer größer geworden. Man kann sich das heute überhaupt nicht mehr vorstellen; in dieser Welt voller Bilder und Informationen, die uns in Film, Fernsehen und Büchern direkt ins Haus geliefert werden.
"Unnütze Ausgabe"


Daheim angekommen, konnte ich nicht verstehen, dass meine Eltern meine Begeisterung über die Blumenkarten nicht teilen konnten und nach meinen Einkäufen fragten, die ich hätte machen sollen. Sie schimpften fürchterlich mit mir wegen der "unnützen" Geldausgabe.
Am 3. August 1948 wurde mein Bruder Franz geboren. Ich hatte mit meinen elf Jahren nicht einmal bemerkt, dass meine Mutter schwanger war. Am Morgen des 3. August schickte mein Vater mich mit meinen beiden kleineren Geschwistern zur Tante Änne in die Stadt. Wir freuten uns und gingen gehorsam hin, dachten an einen besonderen Ferientag. Außerdem hatte mein Bruder Alwin an diesem Tag seinen 8. Geburtstag. Als wir am Abend zurückkamen, wurde uns das kleine Brüderchen gezeigt, denn meine Mutter hatte es daheim geboren, genau wie uns Kinder alle, nur mit der Hilfe einer Hebamme. Ich war entzückt von dem kleinen Burschen und adoptierte ihn gleich als zweite "Mutter".
Am nächsten Tag wurde ich mit dem Bus nach Riesenbeck geschickt, um dort von der Geburt unseres kleinen Franz zu berichten und meine Großmutter zur Taufe einzuladen und abzuholen. Sie bestellte in aller Eile beim Bäcker einen sogenannten "Weggen", einen großen Blechkuchen, der eigens zur Taufe gehört; und am nächsten Tag konnten wir fahren. Zur damaligen Zeit war es noch üblich, das Kind schon nach wenigen Tagen zur Taufe zu bringen. Die Mutter konnte fast nie dabei sein, da sie noch im Wochenbett lag. Später wurde sie dann in der Kirche "ausgesegnet", da sie durch die Geburt "unrein" geworden war. Dieser Brauch wurde jedoch sehr bald von der Kirche abgeschafft. Gott sei Dank! Unsere Familie war nun komplett; und wir gingen neuen Zeiten entgegen.

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