Damals war’s ein Abenteuer

Es ist ein wunderbares Erlebnis, fröhlichen Kindern auf einem Kirmesplatz zuzuschauen und die Zeit zurückzudrehen bis in die eigene Kindheit. Da muss ich schon ein ganz schönes Stück drehen, um in den ersten Nachkriegsjahren zu landen.


Damals versuchte man - auch in meinem kleinen Heimatdorf , wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbrachte - ein wenig Farbe in den grauen Alltag zu bringen. Eines Tages überraschte meine Mutter mich und meine gut zwei Jahre ältere Schwester mit der Ankündigung, mit uns zur Kirmes ins nahe gelegene Marburg zu fahren. Ein enormer Luxus! Wie sie diesen finanzieren wollte? Danach fragt man mit gerade mal vier, fünf Jahren noch nicht. Erst viel später wurde mir bewusst, dass meine ohnehin sparsame Mutter ein wenig "dazuverdiente", in dem sie für besser betuchte Leute kleinere Näharbeiten ausführte und Strümpfe stopfte. Ja, damals wurden Socken bei Bedarf noch repariert und nicht achtlos entsorgt. Fasziniert sah ich ihr manchmal zu, wie sie das buntlackierte , hölzerne Stopfei in einen löchrigen Strumpf steckte und ihr kleines Kunstwerk in Angriff nahm. Vermutlich trugen wir auch an diesem besonderen Tag von ihr handgenähte Kleidchen.
Bereits die Bahnfahrt im Schlepptau der Respekt einflößenden, qualmenden und dampfenden rabenschwarzen Lok erachtete ich als - viel zu kurzes - Abenteuer. Als wir die Kirmeswiese erreichten, wusste ich gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. So viele bunte Stände, so viele angenehme Gerüche, das Kettenkarussell, ein unüberhörbares Orchestrion, all diese Eindrücke strömten fast gleichzeitig auf mich ein.
Etwas abseits gelegen entdeckte ich dann etwas, das zu diesem fröhlichen Rummel überhaupt nicht passte. Es war die auffällig angekündigte Attraktion, die auch uns natürlich neugierig gemacht hatte - ein russischer Tanzbär. Das schmale, große, schwarze Tier trug einen starren Eisenring um den wundgescheuerten Hals. Dieser war mit einer grobgliedrigen Kette an einem starken Mast befestigt. Mir fielen sofort die traurigen, wässrigen Augen des bedauernswerten Geschöpfs auf. Sie hatten so gar keine Ähnlichkeit mit den sanften Knopfaugen meines besten Freundes, dem Spielkameraden aus Holzwolle und senfgelbem , dünnem Fellüberzug , der zu Hause auf mich wartete. Ein uniformierter Mensch berührte das geschundene Geschöpf mit einem langen, dünnen Stock ganz leicht - wie es schien - und zwang es damit, sich sofort nur auf die Hinterbeine zu stellen und bei jeder weiteren Berührung mit diesem seltsamen Stab tanzähnliche Bewegungen auszuführen. Ich wusste damals noch nichts über jene Art der Tierquälerei. Aber ich war nicht bereit, mir dieses hässliche Geschehen länger anzusehen. Manche Männer grölten vor Vergnügen. Wir drei aber verließen auf dem schnellsten Weg den Schauplatz der unwürdigen Vorstellung. Natürlich konnte ich das, was ich zu dieser Zeit empfand, noch nicht in die gleichen Worte fassen wie heute. Der Anblick aber hat sich in meine Erinnerung tief eingebrannt.
Wir waren froh, wieder im fröhlichen Getümmel angekommen zu sein. Mutti kaufte - vermutlich- Zuckerwatte oder anderes Naschwerk, mit Sicherheit aber für uns beide "Liebesperlen", diese winzigen, sehr süßen, bunten Zuckerkügelchen in kleinen Fläschchen.
Plötzlich sah ich hoch über unsern Köpfen verschiedenfarbige Luftballons schweben. Sie flogen nicht davon und landeten auch nicht zwischen all den Jahrmarktbesuchern. Ich war fasziniert von dem offensichtlich federleichten Zauber. Mit fast unsichtbaren Fäden wurden die Ballons von einem freundlichen Mann im Zaum gehalten. Er kam lachend auf uns zu und bot mir an, die Schnur eines solchen Leichtgewichts in meine Hand zu nehmen. Herrlich! Mutti kaufte mir eines dieser bunten Wunder. "Du musst die Schnur gut festhalten, sonst fliegt er dir in den Himmel!" Diesen wichtigen Rat des Verkäufers wollte ich natürlich gern befolgen.
Er überstand unbeschadet die Zugfahrt, und ich brachte ihn wirklich heil nach Hause. Hier war er in Sicherheit. Im Treppenhaus stieg er zu meiner Freude hinauf bis unters Dach. Doch das hätte er besser nicht getan. Mit einem lauten Knall hauchte er seinen Gas-Atem aus und lag als erbärmliches Gummihäufchen vor mir. Erst kam der Schreck, dann die Tränen. Wenige Minuten später hatte ich aber eine glorreiche Idee. Mutti schien mir die einzige Chance auf Rettung zu sein. Deshalb bat ich sie: "Kannst du ihn mir wieder zunähen?" Muttis Nähkünste in allen Ehren - aber mit diesem Spezialauftrag wäre sie dann doch etwas überfordert gewesen.
Abenteuertage haben halt hier und da gelegentlich ein paar kleine Tücken.

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