Das Glas der Muttergottes

"Ist das nicht eine herrliche Blume", sagte ich zu dem Mann, der in seinem Garten Bohnen pflückte. Dabei zeigte ich auf eine Pflanze, die windungsreich mit üppigem Blattwerk an seinem Jägerzaun heraufrankte.

Das Glas der Muttergottes
Foto: (g_wissen

Dazwischen leuchteten viele hübsche Trichterblüten in Rosa oder Weiß.
"Find ich gar nicht", meinte da der Bohnenpflücker und fuhr fort: "Ein lästiges Unkraut ist es. Wenn du die einmal in deinem Garten hast, wirst du sie nicht mehr los. Da kannst du jäten und reißen, immer wieder wächst sie nach. Und hast du auch nur das kleinste Würzelchen vergessen, dann wächst daraus wieder eine neue."
"Etwas Gutes hat diese Pflanze ja", erklärte der Mann gelassen weiter. "Die blüht zwar nur einen Tag, aber dies durch mehrere Monate. Und mir sagt sie, wie das Wetter wird. Wenn die zarten trichterförmigen Blüten morgens geschlossen bleiben, wird es an diesem Tag hundertprozentig regnen oder feucht werden."
Mag die Ackerwinde auch ein lästiges Unkraut sein, für mich ist sie eine Pflanze des Erinnerns. An meine Mutter, die die getrockneten Blätter ihrer Teesammlung beimischte, als gesundes Hausmittel gegen Verstopfung und Bauchschmerzen. An meinen Vater, der mir oft diese fromme Legende der Gebrüder Grimm erzählte:
Die Blume nennt man auch Muttergottesgläschen. Und das kam so. Einmal hatte ein Winzer seinen Karren so schwer mit Weinfässern beladen, dass er sich in dem weichen Wiesenboden festfuhr. So sehr er und seine Zugochsen sich auch mühten, der Wagen war nicht wieder zu bewegen. Just in diesem Moment kam die Muttergottes des Weges daher. Als sie den Fuhrmann sah und dessen Not erkannte, sprach sie zu ihm: "Ich bin müde und durstig, gib mir ein Glas Wein, und ich will dir deinen Wagen frei machen". "Gerne", antwortete der Winzer, "aber ich habe kein Glas, mit dem ich dir den Wein geben könnte".
Da pflückte die Muttergottes am Wegesrand ein weißes Blümchen mit roten Streifen ab, das aussah wie ein kleiner Kelch und Ackerwinde genannt wird. Dieses reichte sie dem Fuhrmann, der es mit Wein füllte. Die Muttergottes trank ihn, und sofort war der Karren frei und der Fuhrmann konnte seinem Ziel zu fahren.
Drum heißt das Blümchen bis heute noch Muttergottesgläschen.

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