Nicht ein einziges Mal. Kein Wort über den Zweiten Weltkrieg. Darüber bin ich entsetzt und enttäuscht - hatten die Lehrer damals etwa ein Redeverbot? Inzwischen beschäftige ich mich mit Geschichte und verfolge die Berichterstattung intensiv. Zuletzt war mehrfach die Rede davon, dass die Bundesrepublik Deutschland der Rechtsnachfolger des Dritten Reichs ist. Bundespräsident Joachim Gauck hat von der Verantwortung der Nachkriegsgeneration gesprochen und so weiter. All das geht mir nicht aus dem Kopf: Rechtsnachfolger, Verantwortung ... das würde, zu Ende gedacht, ja bedeuten, dass ich mitschuldig bin an den NS-Verbrechen, am Holocaust, an den Gräueln des Kriegs?! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich war noch gar nicht auf der Welt! Wie kann ich, wie kann meine Generation schuldig und verantwortlich sein? Lieber Herr Krämer, die Frage, die Sie aufwerfen, wird immer wieder diskutiert - oft im Zusammenhang mit dem Gedenken an historische Ereignisse. Diesmal: der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich vor hundert Jahren. Der Bundespräsident sagte dazu (mit Blick auf die deutsche Geschichte): "Indem wir erinnern, setzen wir niemanden, der heute lebt, auf die Anklagebank." Wichtig sei aber, früheres Unrecht nicht zu leugnen, zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Dies sei man den Nachfahren der Opfer schuldig. Die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit und die Ermordung der Juden hätten in Deutschland mit "beschämender Verzögerung" stattgefunden. Haben die Nachgeborenen sich für das zu verantworten, was die Altvorderen angerichtet haben? Die heute lebenden Türken für den Genozid an den Armeniern? Die heute lebenden Amerikaner für das Abschlachten der Indianer? Die heute lebenden Deutschen für die Barbarei des Hitler-Regimes? Nein. Die Täter haben Schuld auf sich geladen, nicht die Kinder und Kindeskinder. Es kann allerdings sein, dass Menschen oder Staaten, die "geerbt" haben, für dieses "Erbe" juristisch oder moralisch belangt werden. Zur Begriffsklärung: Rechtsnachfolge = Übergang von bestehenden Rechten und Pflichten einer Person auf eine andere. Wer ein vermietetes Haus kauft, tritt von Gesetzes wegen in den Mietvertrag ein und übernimmt alle Vereinbarungen. Im Staats- und Völkerrecht meint Rechtsnachfolge "das Einrücken eines Staates in die völkerrechtlichen Rechtspositionen eines anderen Staates" = Staatensukzession. Die DDR ist als "Staats- und Völkerrechts subjekt" zerbröselt und nimmt seit 1990 an der "staats- und völkerrechtlichen Kontinuität Deutschlands in der Form der Identität der Bundesrepublik Deutschland" teil. Und wie ist das mit der Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs? Darüber wird seit 1945 gestritten: Untergang (Debellationstheorie, Dismembrationstheorie)? Oder Fortbestand (Dachtheorie/Teilordnungstheorie, Staatskerntheorie, Kernstaatstheorie/Schrumpfstaatstheorie, Teilidentitätstheorie)? Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach geurteilt: Fortbestand. Politisch: wechselnde Interpretationen und Ansprüche, Tendenz: Fortbestand. Hallstein-Doktrin, Ostpolitik, Wiedervereinigung, Souveränität ... jedoch: Die eine Antwort gibt es nicht, die Gemengelage ist äußerst kompliziert. In seinem Buch What Is History? (Was ist Geschichte?) bringt Edward Hallett Carr dieses Beispiel: Ein Mann, der zu viel getrunken hat, setzt sich ans Steuer eines Autos mit defekten Bremsen, kurvt um eine Ecke und überfährt einen Mann, der gerade die Straße überquert, um Zigaretten zu kaufen. Ursache und Wirkung: Wer ist verantwortlich, wer ist schuldig? Der Mann, der einen Drink zu viel hatte? Der Mechaniker, der die Bremsen vernachlässigte? Die Behörden, die sich nicht darum gekümmert haben, eine gefährliche Kurve zu begradigen? Der Raucher, der über die Straße flitzen wollte, um sein schädliches Verlangen zu stillen? Herzliche Grüße! Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur E-Mail: forum@volksfreund.de Mehr Kolumnen im Internet: <%LINK auto="true" href="http://forum.blog.volksfreund.de" class="more" text="forum.blog.volksfreund.de"%>