Kluge Worte - doch es geschieht nichts

Zum Hungertod der fünfjährigen Lea-Sophie aus Schwerin (TV vom 24./25. November) erhielten wir diese Zuschrift:

Misshandelte und vernachlässigte Kinder haben eines mit dem Schicksal großer Künstler gemeinsam: Sie können öffentlich bekannt werden und allenthalben die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sofern sie eines jämmerlichen Todes gestorben sind, und auch dann nur für kurze Zeit. Ansonsten interessiert sich offenbar keine Behörde, kein Mitmensch, auch kein Nachbar für sie. So lange sie noch atmen, dürfen sie weiterhin gequält, missbraucht und gepeinigt werden. Selbst dann, wenn sich Nachbarn finden, die hinsehen und hinhören und zuständige Ämter alarmieren, ist leicht ein Oberbürgermeister bereit, das Nichthandeln seiner Mitarbeiter als korrekt einzustufen - die Vorschriften wurden eingehalten. Kinder sind hilflose und schutzbedürftige Lebewesen, der Obhut und Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft anvertraut. Diese Binsenwahrheit trifft nur auf Langeweile und Überdruss: Das wissen wir ja alle! Zwei weitere Lebensabschnitte sind Kindern vergönnt, in denen sie medialen Augenmerks teilhaftig werden können: einerseits als Schulversager und andererseits dann, wenn sie endlich, weil ohne andere Aussicht, auf die schiefe Bahn geraten und kriminell geworden sind (in beiden Alternativen allerdings ausschließlich als Summe). Der Tod eines gequälten Kindes, 80 000 deutsche Schüler, die jährlich nicht den Hauptschulabschluss schaffen oder auch die ansteigende Jugendkriminalität rufen dann eifrige Kommentatoren vor die Kameras, um kluge Sätze zu sprechen, und die Journalisten der Printmedien greifen beherzt in die Tasten ihrer Computer - jedoch: Geschieht sonst noch irgend etwas, vielleicht eine Handlung oder Entscheidung, die über das Erwarten des nächsten Falles hinausreicht? Weit und breit nichts zu erkennen. Hinzu kommt: Der Rat, die Nachbarn mögen aufmerken und Verdachtsmomente den Behörden melden, ist wohlfeil in deutschen Landen. Staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl nämlich erfordert Mut und die Bereitschaft, sich zu exponieren. Und so gerät ein hellwacher Bürger rasch in den öffentlichen Verdacht des Querulantentums, und verurteilend schreit es von den Titelseiten: Denunziation. Drum bleibt auch fernerhin das Warten auf den nächsten Fall.Wolf-Rüdiger Wulf, Trier gesellschaft

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