Mit der Menschlichkeit ist es manchmal nicht weit her

Zum Artikel "Ein Fernseh-Glücksfall" (TV vom 9. November):

Dieter Lintz beschreibt den "dumpfen, reaktionären Zeitgeist" im zeitlichen und sozialen Umfeld des Contergan-Skandals und meint, dass sich "die Zeiten ... mächtig Richtung Menschlichkeit verändert" hätten. Unsere täglichen Erfahrungen sehen anders aus. Wir pflegen einen MS-kranken, vollständig spastisch gelähmten 55-jährigen Verwandten bei uns zu Hause, litauische Rente von 180 Euro. Er erhält keinen Cent aus deutschen Kassen, alle Kosten tragen wir freiwillig. Trotz der täglichen intensiven Sorge - zu Essen geben, reinigen, Pampers wechseln - wären wir eine zufriedene Familie, wenn wir nicht hier in Trier viele Unmenschlichkeiten erleben müssten. Demütigungen sind für uns harte Realität: Mitarbeiter von Behörden und Institutionen müssen mit fast unmenschlicher Mühe davon überzeugt werden, dass es Rechte eines Behinderten gibt. Wir erwarten keine Ausnahmen. Neben der Aversion gegenüber Schwerkranken verspüren wir auch zunehmend Fremdenfeindlichkeit. Höhepunkte dieser Demütigungen sind unsere Erfahrungen mit vielen Ärzten, Menschen, die sich durch einen Eid verpflichtet haben, Kranken zu helfen. Die sich aber weigern, notwendige Medikamente auf Kassenrezept zu verschreiben. Oder einen notwendigen Hausbesuch ablehnen. Oder den fast versteinerten Schwerstbehinderten anderthalb Stunden im Wartezimmer im Rollstuhl sitzen lassen. Oder ihn im Flur der Praxis behandeln. Oder rundweg ablehnen, ihn als Hausarzt zu behandeln. Dennoch gibt es Menschen, die uns Menschlichkeit entgegenbringen: unser Pflegedienst, sämtliche Ämter der Stadtverwaltung, unsere deutschen, französischen und polnischen Nachbarn, Geschäftsleute, ein Rechtsanwalt lassen uns manchmal unsere zunehmende Verbitterung und unseren Zorn vergessen. Herr Lintz, Ihre heile Welt von 2007, die sich "mächtig in Richtung Menschlichkeit verändert" haben soll, existiert in "unserem schönen Trier" so nicht. Öffnen Sie Ihre Augen! Das ist Ihre Pflicht als verantwortungsbewusster Journalist!Ramune & Günter Heidt, Trier contergan-film

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