Vorsicht, Hoax!

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Josef Wagner aus Perl schreibt zur Finanzkrise: Wie sich die Zeiten doch wiederholen. Aus den Fehlern der vergangenen Generationen haben die nachfolgenden nichts gelernt. Durch Raffgier einzelner Zeitgenossen in allen Nationen, auf Kosten der Allgemeinheit, kommt es zu Krisen, die sich in der Geschichte wiederholen. Zur Weltwirtschaftskrise vor knapp achtzig Jahren schrieb damals der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky einen Text, den er 1930 in der "Weltbühne" veröffentlichte. Ein wenig Lyrik kann nie schaden:

Wenn die Börsenkurse fallen, regt sich Kummer fast bei allen,

aber manche blühen auf:

Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben Dinge, die sie gar nicht haben,

treten selbst den Absturz los, den sie brauchen - echt famos!

(es folgen weitere acht Vierzeiler)

Lieber Herr Wagner,

vielen Dank für Ihre Zuschrift. Das Gedicht ist hübsch, aber es ist nicht von Kurt Tucholsky. Seit einigen Monaten kursieren die Verse im Internet - eine Fälschung, ein sogenannter Hoax (englisch für: Jux, Scherz, Schabernack, auch: Schwindel).

Der österreichische Autor Richard Kerschhofer hat das Gedicht geschrieben und unter dem Pseudonym "Pannonicus" veröffentlicht, wohl erstmals im September 2008 auf der Online-Seite der "Genius-Gesellschaft für freies Denken", eines in Wien eingetragenen Vereins, der dem Dunstkreis der rechtspopulistischen FPÖ zuzurechnen ist. Kaum im Netz, verbreitete sich das Gedicht blitzartig in Blogs, Foren und über E-Mail-Kettenbriefe. O Wunder: Als Verfasser galt plötzlich Kurt Tucholsky (1890-1935). Kapitalismus- kritiker stürzten sich begeistert darauf, Politiker griffen es auf, Deutschlehrer bauten es in ihren Unterricht ein, einige Zeitungen druckten das "Fundstück" als Beweis für die vermeintlich prophetischen Gaben des großen Tucholsky.

Der Fall zeigt, wie wichtig es ist, genau hinzusehen, zu prüfen, zu recherchieren - Informationen aus dem Internet sind oft mit Vorsicht zu genießen.

Auf www.sudelblog.de ist der Weg der Gedicht-Legende dokumentiert. Ein Blogger des Trierischen Volksfreunds war mutmaßlich an der Entstehung des Hoax beteiligt. "Tetrapanax" entdeckte die Verse im Netz und platzierte sie auf seiner Seite neben einem Original von Tucholsky - ohne Überschrift, ohne Autor. "Irgendjemand las wohl meinen Beitrag, ordnete dem ersten, unbetitelten Gedicht die Autorschaft Tucholskys zu, und so nahm das falsche Tucholsky-Gedicht seinen Weg durch das deutschsprachige Internet", rekonstruierte "Tetrapanax". Mitte Oktober standen die Verse auf der Kommentar-Seite der "Zeit". Fortan rollte die Lawine, innerhalb kürzester Zeit vermehrte sich der Hoax zehntausendfach ...

Schönes Wochenende!

Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur

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