Das Drängende sofort, das Wichtige mit Bedacht

Nur noch Zahlen. In der Wahrnehmung keine Schicksale mehr.Jeden Tag, jede Woche erreichen uns von irgendwo in Europa, von irgendwo in Deutschland Nachrichten vom Versagen angesichts der anhaltenden Flüchtlingsströme. In Trier müssen Asylsuchende vorübergehend unter freiem Himmel schlafen, weil die Erstanlaufstellen überfüllt sind. Ein ähnliches Chaos herrscht in vielen deutschen Städten

Die Bundesregierung will auf dem Westbalkan ein Abschreckungsvideo verbreiten lassen, um Albanern, Kosovaren, Serben, Mazedoniern etc. klar zu machen, dass sie gleich zu Hause bleiben sollen, weil sie in Deutschland doch keine Chance auf Asyl haben. Innenminister Thomas de Maizière denkt über Taschengeldkürzungen nach. Schließlich springen andere EU-Länder viel rigider mit Flüchtlingen um. Längst wird unterschieden zwischen ,,guten" Flüchtlingen, die sich vor Krieg, und Verfolgung zu uns retten, und ,,schlechten" Flüchtlingen, die ,,nur" der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat entkommen wollen. Die Polizeigewerkschaft fordert wieder Grenzkontrollen. Einige Politiker fordern das auch. Abwehren ist leichter als gestalten. Die europäische Freiheitsidee wird schnell zur Makulatur, wenn's Probleme gibt. Kommunen sind vielerorts bereits mit der Erstversorgung der Asylsuchenden überfordert. Die Situation ist akut. Menschen aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen, mit ganz individuellen Fluchtgeschichten und völlig ungewisser Zukunft auf engstem Raum, Menschen, die zudem nicht arbeiten dürfen - das birgt Konfliktpotenzial. Und das politische Berlin hat sich doch tatsächlich dazu durchgerungen, den für Herbst geplanten nächsten Flüchtlingsgipfel auf September vorzuziehen - wenn alle wieder aus der Sommerpause zurück sind. Bravo. Unterdessen touren Regierungs- und Oppositionspolitiker aus Bund und Ländern, die nicht gerade urlauben, werbewirksam durch die Republik, um hier ein Händchen zu drücken, sich dort in einer Firma, einer Kita etc. blicken zu lassen. In weniger angespannten Zeiten geht das in Ordnung. Im Augenblick aber hat man den Eindruck, dass da falsche Prioritäten gesetzt werden. Äußerst beliebt hingegen sind gegenseitige Schuldzuweisungen. Dieses Schwarze-Peter- -Hin-und-Hergeschiebe beseitigt keinen einzigen Engpass. Ebenso wenig wie Floskeln: man könnte, man sollte, denkbar wäre, die auf irgendeinen nebulösen Zeitraum in der Zukunft verweisen. Der Vorwurf, die derzeitigen Zustände seien absehbar gewesen, man hätte besser vorsorgen müssen, ist berechtigt. Aber er ändert nichts an der Lage, die man einfach viel zu lange nicht wahrhaben wollte. Jetzt muss gesprungen, jetzt muss gehandelt werden. Was wäre das für ein starkes Signal, wenn Politiker unabhängig von Ressortzuständigkeiten und Parteizugehörigkeit sich noch heute dazu aufraffen würden, Kräfte zu bündeln, zu beweisen, dass Menschlichkeit und Machbarkeit keine Gegensätze sind. Nach dem Motto: das Drängende sofort, das Wichtige, nämlich ein Einwanderungsgesetz als künftiges Ordnungsinstrument, mit Bedacht und Umsicht.

Isabell Funk
Chefredakteurin

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort