Standpunkt

Immer wenn die etablierten Parteien gesellschaftliche Strömungen oder Entwicklungen unterschätzen oder fahrlässig ausblenden, wird Platz für Neues. So schaffte die europakritische Partei AfD binnen zweier Jahre aus dem Stand heraus den Sprung in fünf Landtage und ins Europaparlament.

Obwohl Deutschland mitten in der EU-Krise wirtschaftlich schon eine ganze Weile glänzend dasteht, die Exporte brummen und die Beschäftigung ein Rekordniveau erreicht hat, wurden auch hier ähnlich dem Vorbild anderer Länder der Union antieuropäische Stimmungen in eine Partei gegossen. In der Alternative für Deutschland hatten bisher vernachlässigte Europaskeptiker endlich eine Adresse gefunden. Gründer Bernd Lucke und Mitstreiter Hans-Olaf Henkel, der eine Ökonomieprofessor, der andere ehemaliger BDI-Chef - das war doch mal ein Gespann mit Sogkraft für eine konservative Klientel, ein Gespann, von dem man sich Seriosität und Niveau versprach, jenseits des Schmuddel-Images, das beispielsweise den Euro-Kritikern Front National in Frankreich oder dem Ukip in Großbritannien mit ihren deutlich rechtsextremen Prägungen anhaftet. Es wundert nicht, dass es anders kam. Denn eingeladen fühlten sich auch genau jene Rechtspopulisten, die der Partei mittlerweile ihren Stempel aufgedrückt haben. Henkel verabschiedete sich im April entnervt aus dem Vorstand, Lucke kämpft noch um seine Idee einer stramm konservativ geprägten Wirtschaftspartei. Aber er hat viel zu lange gewartet, um den Versuchen der Rechtsideologen, die Partei zu übernehmen, entgegenzuwirken. Vom Gewackele zwischen Verharmlosung und Relativierung genau jener Tendenzen bis hin zu deren scharfer Verurteilung profitiert vor allem seine einstige Weggefährtin Frauke Petry, mit der er mittlerweile in inniger Feindschaft verbunden ist. Die Absage des Delegierten-Parteitags, der an diesem Wochenende hätte stattfinden sollen, mag Lucke wieder etwas Luft verschaffen, um die Basis auf seine Seite zu ziehen. Aber diese Zeit werden auch Petry und ihr Verbündeter Alexander Gauland zu nutzen wissen. Gleichgültig, ob Lucke oder Petry sich in diesem Richtungsstreit durchsetzen, die AfD mit ihrem heillos zerstrittenen Führungspersonal steht vor der Spaltung. Und mit Splitterparteien ist im Wortsinne kein Staat mehr zu machen. Isabell Funk, Chefredakteurin

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