Standpunkt

Der eine warnt angesichts der Flüchtlingskrise vor einem Zerfall der Europäischen Union. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, dessen Land gerade turnusgemäß den EU- Ratsvorsitz innehat, sieht die EU akut bedroht, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen die Regel werde und nationale Egoismen ,,die Kultur der humanen Werte" außer Kraft setzten.

Aber gerade die sei doch der Kitt, der die Staatengemeinschaft zusammenhalte. Der andere wiederum, Großbritanniens Premier David Cameron, fordert unter anderem eine weniger enge Gemeinschaft, in der nationalen Parlamenten wieder mehr Rechte eingeräumt werden. Der Zuzug von Migranten nach Großbritannien müsse eingeschränkt werden. Wenn Europa sich nicht in diesem Sinne reformiere, setze er sich beim anstehenden Referendum für einen Austritt seines Landes aus der Union ein. Dabei hat es ohnehin nicht den Anschein, als würden die europäischen Mitgliedstaaten immer enger zusammenwachsen.

Ganz im Gegenteil scheint der von Asselborn, aber auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker oder EU-Parlamentspräsident Martin Schulz angemahnte Schulterschluss von manchen nur gewollt zu sein, wenn es dem eigenen Vorteil dient. In Polen wurde mittlerweile eine nationalkonservative Regierung gewählt, die die Aufnahme von Flüchtlingen ebenso kategorisch ablehnt wie zuvor schon Ungarn und andere osteuropäische Staaten. Polen und Ungarn begründen das mit der Wahrung ihres katholischen Erbes. Es ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten, dass Menschen, die vor Mord, Bomben und Verwüstung im Namen Allahs fliehen müssen, im Namen Christi abgewiesen werden. Mit den Werten des (christlich geprägten) Abendlandes argumentieren ja auch die Rechtsextremen hierzulande, die vom Christentum so viel verstehen wie die Kuh vom Tanzen. Auch Portugal, Spanien und Griechenland sind vor allem mit sich selbst beschäftigt. In der portugiesischen Republik hat die Linksopposition, die aus ganz unterschiedlichen Gruppierungen, angefangen von Sozialisten über Marxisten bis Kommunisten und Grünen, besteht, gerade die europafreundliche Mitte-rechts-Koalition unter Ministerpräsident Pedro Passos Coelho gestürzt.

In Griechenland gibt es wieder Unruhen wegen der von der EU geforderten Spar- und Reformmaßnahmen. Dabei steht gerade die Überweisung der nächsten Kredittranche europäischer Institutionen von zwei Milliarden Euro an. Spanien dagegen kämpft aktuell vor Gericht gegen die Abspaltung Kataloniens. Da verliert man eine so große Herausforderung wie die dringend notwendige gemeinsame Asylpolitik schnell aus den Augen. Die Krokodilstränen, die man noch im Sommer gemeinsam angesichts der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge vergossen hat, sind längst getrocknet. Mittlerweile werden auch die EU-Außengrenzen zur viel frequentierten Balkanroute immer weiter abgeriegelt, und selbst innerhalb Europas gibt es wieder Grenzkontrollen. Als vor ein paar Tagen die ersten 30 (nicht 30 000!) von verabredeten 160 000 Flüchtlingen im Hoheitsgebiet der EU verteilt wurden, zelebrierte man das mit viel Brimborium fast wie einen Staatsakt.

Danach aber hat sich nicht mehr viel getan. Und in den Nothilfefonds, der afrikanischen Ländern zu größerer politischer Stabilität und damit zur Rücknahme von Asylsuchenden verhelfen soll, sind von den versprochenen 1, 8 Milliarden, die ohnehin bei weitem nicht reichen dürften, erst knapp 80 Millionen Euro geflossen. Jenseits aller moralischen Kategorien ist es eigentlich unfassbar, wie fahrlässig sich einige europäische Staatenlenker über Realitäten hinwegsetzen, die sie längst eingeholt haben. Das Thema Völkerwanderung lässt sich nicht aussitzen. Wer sich jetzt nicht aktiv an nachhaltigen Lösungen beteiligt und einigen wenigen, darunter Deutschland, die Bewältigung eines Mega-Problems unterschieben will, hat nichts begriffen. Frieden und Freiheit waren immer das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen und eines gelebten Bekenntnisses zu gemeinsamer Verantwortung. Wenn diese Normen außer Kraft gesetzt werden, ist es auch bald mit den Errungenschaften Europas vorbei.

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