Um Europa wird endlich wieder gerungen

Wann wurde je so leidenschaftlich über Europa diskutiert wie in den letzten Wochen rund um die Griechenland-Krise? Europa, das war doch dieses langweilige, technokratische Gebilde, auf das es sich so leicht schimpfen ließ, wenn mal wieder nationale Pläne oder Befindlichkeiten an gemeinsam beschlossenen europäischen Regeln scheiterten. Solche Schuldzuweisungen haben heute immer noch und sogar mehr denn je bei allen nationalen Regierungen und Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten Methode.

Die deutsche Maut, derentwegen die EU-Kommission ein Verfahren wegen Vertragsverletzung eingeleitet hat, ist ein solches Beispiel. Wird sie gekippt, liegt das nicht an einem schlecht gemachten Gesetz, sondern an Europa. Was Wunder, dass die Bevölkerungen nicht gerade vor Begeisterung Purzelbäume schlagen, einer Gemeinschaft anzugehören, die von ihren eigenen Politikern je nach Gusto zum Sündenbock gestempelt wird.

Was Wunder, dass antieuropäische Stimmungen und Parteien immer breiteren Raum einnehmen Das Drama um Griechenland, das die europäische Einheit wirklich bis zum Anschlag strapaziert, ist nur der vorläufige Höhepunkt einer schon lange schwelenden Vertrauenskrise. Wo sind sie denn, diese immer wieder beschworenen gemeinsamen Werte?

Nehmen wir die Freiheit: Die wird beispielsweise in Ungarn unter den Augen der übrigen Europastaaten sehr eigenartig interpretiert. Schon die ehemalige EU-Kommissarin Viviane Reding aus Luxemburg bescheinigte der rechtskonservativen ungarischen Regierung, alles auszuhebeln ,,was wir in Europa aufgebaut haben": Pressefreiheit, eine freie Justiz, Wahlrecht. Hat sich eigentlich sonst noch jemand groß darüber aufgeregt? Gut, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker pfiff jüngst Ministerpräsident Viktor Orbán scharf zurück, als der damit liebäugelte, die Todesstrafe einzuführen. Auch der vier Meter hohe Zaun, der die Ungarn auf einer Länge von 175 Kilometern vor Flüchtlingen abschotten soll, wurde von der EU gerügt. Gebaut wird er trotzdem.

Nehmen wir die Solidarität: Spätestens, seitdem vor allem osteuropäische Regierungschefs sich einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer an den Außengrenzen anlanden, verweigerten, wissen wir, dass es auch mit der Solidarität nicht weit her ist, weder untereinander noch gegenüber Hilfesuchenden aus anderen Staaten. Die umstrittenen weiteren Milliardenhilfen für Griechenland haben nicht wirklich etwas mit Solidarität zu tun, sondern mit der Furcht, die Euro-Zone könne erodieren. Umgekehrt ist es auch mit der Loyalität der griechischen Regierung gegenüber Resteuropa nicht weit her. Frieden immerhin, den hat uns Europa gebracht. Und das ist eine große Errungenschaft.

Die wird aber gar nicht so sehr geschätzt, weil die meisten der heute Lebenden keinen anderen Zustand kennen. Kriege sind anderswo. In Europa ist eine neue Generation herangewachsen. Während die Nordstaaten zum Teil nach schmerzhaften Sparrunden vom Euro profitieren, ist die Jugendarbeitslosigkeit im Süden exorbitant hoch. Diese jungen Leute sind es vor allem, die die als Fesseln empfundenen Regeln und Spardiktate, die Europa zusammenhalten sollen, nicht mehr verstehen. Regeln, die - siehe Griechenland - die Regierenden selbst immer wieder aufweichen. Bei allem nötigen Pragmatismus kann sich die europäische Union nicht länger darin einrichten, als großer, kalter Regulierungsapparat verstanden zu werden.

Genau diese Entwicklung hat ja zur Entfremdung geführt. Die schon lange dauernde Griechenland-Krise, die jetzt die höchste Eskalationsstufe erreicht hat, hat dennoch eines bewirkt: Um Europa wird wieder gerungen, hitzig noch, vielfach unangemessen in Ton und Stil. Damit einher geht aber die Chance, endlich damit anzufangen, Europa neu zu denken.

Isabell Funk
Chefredakteurin

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