Die unauffälligen 90 Prozent

Bis vor wenigen Wochen war Tröglitz in Sachsen-Anhalt irgendein kleiner Ort, den kaum jemand kannte. Dann trat der Bürgermeister zurück, weil er sich ob seiner Bemühungen um eine Asylbewerberunterkunft dem Volkszorn ausgesetzt sah.

Anschließend brannte der Dachstuhl des noch unbewohnten Flüchtlingshauses. Auch der Landrat, der den Kreistagsbeschluss umgesetzt und die Unterkunft verfügt hatte, erhielt Morddrohungen, wird weiter attackiert und steht jetzt unter Polizeischutz. Der zuständige evangelische Regionalbischof spricht von einer hasserfüllten Atmosphäre in Tröglitz. Dieser extreme Fall von Fremdenfeindlichkeit wird seither landauf, landab diskutiert. Er gipfelt in der Äußerung von Ministerpräsident Reiner Haseloff, Tröglitz sei überall. Das ist Unsinn und die Verteidigungsstrategie eines zutiefst erschrockenen Politikers. Es stimmt, dass die Zahl rechtsextremer Übergriffe parallel zu wachsenden Flüchtlingsströmen deutlich zugenommen hat. Es stimmt, dass selbsternannte Retter des Abendlandes verbal gegen Ausländer aufrüsten und nicht nachlassen, ihr Gift zu verspritzen. Es stimmt auch, dass vor allem in der Anonymität des Internets alle zivilisatorischen Schranken durchbrochen und Instinkte ausgelebt werden, denen Ausdruck zu verleihen man sich sonst schämen würde. Das ist ebenso feige wie erbärmlich, aber Fakt. Meinungsforscher schätzen das rassistische Potenzial in der Bevölkerung auf zehn bis 15 Prozent. Und die anderen 85 bis 90 Prozent? Um wie viel mehr lohnt es sich, auf jene von ihnen zu schauen, die ohne viel Federlesens Missgunst und Feindseligkeit aktiv etwas entgegensetzen. Unter dem Dach von katholischer und evangelischer Kirche haben in Trier beispielsweise Caritas, Diakonie und weitere Wohlfahrtsverbände ein Netz von haupt- und ehrenamtlichen Helfern gespannt, das zunächst einmal die Aufnahme von Flüchtlingen organisiert, ihre Versorgung sichert, Beratung und Sprachlehrgänge anbietet und sich auch dann noch kümmert, wenn Asylsuchende auf Städte und Gemeinden verteilt wurden. Kinder, die ohne Familien kamen, werden gesondert betreut. Der Kreis Trier-Saarburg hat ein viel beachtetes Flüchtlingsprojekt aufgesetzt. Überall in der Region gibt es kommunale oder private Initiativen. Die Handwerkskammer hat einen Runden Tisch einberufen, der sich vorwiegend an Wirtschafts- und Kommunalvertreter richtet und Arbeitsmöglichkeiten für die nicht selten gut ausgebildeten Flüchtlinge auslotet. Studierende der Trie rer Universität haben einen Verein gegründet, der Asylsuchende bei administrativen und rechtlichen Fragen unterstützen will. Auch bei uns läuft nicht alles glatt. Die Kommunen ächzen unter der finanziellen Mehrbelastung, die von Land und Bund bisher nicht in vollem Maße gedeckt wird. Es gibt Klagen über schleppende Anerkennungsverfahren und natürlich gibt es auch bei uns Ressentiments. Aber hier stehen nicht Ablehnung oder Kritik im Vordergrund. Sondern jener Pragmatismus, der darauf ausgerichtet ist, Probleme zu lösen. Umso besser, wenn dazu auch noch menschliche Anteilnahme kommt. Ein Einzelfall ist Tröglitz tatsächlich nicht, wie die vergangenen Monate gezeigt haben. Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gab es auch anderswo und kriminelle Akte dieser Art wird es vermutlich noch öfter geben. Aber Tröglitz ist auch nicht die Norm.

Isabell Funk, Chefredakteurin

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