Von der Pflicht hinzusehen

Kindesmissbrauch zählt in unserer Gesellschaft zu Recht zu einem der meist geächteten Verbrechen. Natürlich ist er weder ein Phänomen der Neuzeit, noch ein rein deutsches.

Kindesmissbrauch gab und gibt es immer - überall. Er wurde lange tabuisiert und vertuscht. Nur besonders abscheuliche Beispiele drangen als Einzelfälle an die Öffentlichkeit. Eine ungeheure Dynamik in der gesellschaftlichen Debatte entwickelte das Thema erst vor vier Jahren, als eine kirchliche Institution, das Canisius Kolleg in Berlin, auf zurückliegende Missbrauchsfälle in den eigenen Reihen aufmerksam machte. Der Damm war gebrochen. Es meldeten sich immer mehr Opfer. Über die katholische Kirche brach ein Fegefeuer aus Fassungslosigkeit und Entsetzen, aus Wut, Hass und Verachtung herein. Nur wenig später wurde publik, dass auch evangelische Einrichtungen, Heime - auch staatliche - Vereine und Schulen betroffen waren. Als Täter wurden Geistliche, Ordensleute, Ministranten, Betreuer, Lehrer aber auch Mitschüler - meist Täter und Opfer zugleich - identifiziert. Trotz der vielen bekannt gewordenen Fälle, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen, ist die Dunkelziffer hoch, am höchsten wohl bei Missbrauch im engsten familiären Umfeld. Besonders tief im kollektiven Gedächtnis verhaftet bleibt dennoch die Kinderschändung in der katholischen Kirche. Gerade sein hoher moralischer Anspruch an andere, seine strenge Sexuallehre macht den Klerus so angreifbar. Es hat lange gedauert, bis die Amtskirche begriffen hat, in welches Unrecht sie sich mit Totschweigen und Täterschutz gesetzt hat. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sie mittlerweile handelt. Entschädigungen für tiefste Verletzungen, die meist lebensprägend sind, mag man immerhin als Geste der Reue begreifen. Wichtiger ist die Sensibilisierung des eigenen Personals für Anzeichen von sexuellen Übergriffen auf Schutzbefohlene. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Missbrauchsbeauftragter seiner Kirche, lässt über 8000 Mitarbeiter in Präventivkursen schulen. Anders als in manchen anderen Bistümern, die ähnliche Angebote vorhalten, sind solche Seminare in Trier Pflicht. Dass das Programm nun auch noch zeitlich und inhaltlich ausgeweitet wird, zeigt einerseits, wie groß das Bedürfnis nach Aufklärung und vertiefenden Gesprächen ist und macht andererseits Hoffnung, dass die Zeiten des Wegsehens und Leugnens nun endgültig vorbei sind. So könnte eine staatliche Initiative, die der Vorbeugung dient und selbstverständlich die digitale Welt mit einschließt, Kindern und Jugendlichen auf Dauer mehr Schutz bieten als die von der Bundesregierung geplante Verschärfung des Kinderpornografie-Gesetzes. Denn strafrechtliche Maßnahmen greifen ja immer erst dann, wenn schon etwas passiert ist.

Isabell Funk Chefredakteurin

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort