Das Märchen vom Fachkräftemangel

Es war einmal ein Land der Dichter, aber auch der Techniker und Bastler. Dort lebten Menschen und Wirtschaft in Harmonie. Durch die Soziale Marktwirtschaft hatten es viele seiner Bewohner zu einigem Wohlstand gebracht, und für die Unternehmen sprudelten satte Gewinne. Doch es nahte Ungemach.

Noch nie war die Ingenieurslücke in Deutschland so groß, jammert beispielsweise der Verband der Deutschen Ingenieure. Laut Ingenieursmonitor gab es im vergangenen Jahr mehr als 105.000 offene Stellen. Das sei ein Rekordhoch seit Beginn der Erhebung gewesen.

Leben Ingenieure also in einem Schlaraffenland mit Vollbeschäftigung? Leider nein. Denn eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kommt zu ganz anderen Ergebnissen. Selbst bei einer guten Konjunkturentwicklung müssen jährlich nur 31.000 Ingenieursstellen neu besetzt werden. Der Clou des Ganzen? Schon heute gibt es eine viel höhere Anzahl von Hochschulabsolventen. Allein 2010 haben knapp 50.000 angehende Ingenieure ihr Studium abgeschlossen.

Statt eines Mangels herrscht in der Realität ein Fachkräfteüberschuss. Für die Firmen hat das positive Auswirkungen. Angesichts der Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt können sie sich bei den Gehältern zurückhalten. Das belegt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Danach stiegen zwischen 2000 und 2010 die Löhne branchenübergreifend um insgesamt 24 Prozent. Da die Inflationsrate in diesem Zeitraum höher lag, haben die meisten Arbeitnehmer weniger in der Tasche als vor zehn Jahren.

Panische Warnungen vor einem Fachkräftemangel sind nicht neu. Bereits zur Jahrtausendwende sah der Branchenverband Bitkom einen riesigen Bedarf an Informatikern voraus. Tausende junge Menschen wählten einen Studiengang entsprechende dieser Vorhersage und landeten dann direkt in der Arbeitslosigkeit. Bei seiner Konzentration auf den Fachkräftemangel hatte der Branchenverband die einfachsten ökonomischen Gesetze verdrängt: Nach jedem Aufschwung folgt eine Abkühlungsphase, bei der der Bedarf nach Arbeitskräften sinkt.
Auch in der Region ist eine Diskussion über fehlende Fachkräfte entbrannt. Allerdings lohnt es sich, hier etwas genauer hinzuschauen. Trotz einer offiziellen Arbeitslosenquote von unter vier Prozent gilt der Großraum Trier laut einer DGB-Studie bundesweit als Niedriglohngebiet. In einer Marktwirtschaft reguliert sich ein Mangel immer über den Preis. Wenn eine Ware knapp ist, wird sie teurer. Gibt es zu wenige Arbeitskräfte, steigen die Löhne. Wenn also wieder vom Fachkräftemangel die Rede ist, schauen Sie ruhig einmal auf Ihre Gehaltsabrechnung. Geht es bei den monatlichen Bezügen auf einmal rasant bergauf, dann könnte tatsächlich etwas an der Vorhersage der Wirtschaftsverbände dran sein.

Wenn nicht, dann bleibt es bei dem Märchen vom Fachkräftemangel. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warnen sie uns noch heute.

Thomas Zeller ( t.zeller@volksfreund.de )

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