Zusammen, aber in der eigenen Welt

In der Seniorenresidenz St. Martin in Schweich haben alte Menschen ein neues und ihr wohl letztes Zuhause gefunden. Der TV schaute Julia Kayser auf der Station des Vergessens vom Aufstehen bis zum Frühstück über die Schulter.

 Altenpflegerin Julia Kayser wechselt zwischen Pflegen und Frühstückmachen ein paar Worte mit Heimbewohner Emil. TV-Foto: Katja Bernardy

Altenpflegerin Julia Kayser wechselt zwischen Pflegen und Frühstückmachen ein paar Worte mit Heimbewohner Emil. TV-Foto: Katja Bernardy

Kurz vor 6 Uhr. Langsam erwacht die Stadt aus dem Schlaf. Vereinzelt durchbricht ein Motorengeräusch die Morgenstille. In manchen Häusern klingeln Wecker und erinnern unerbittlich ans Aufstehen. Der Wohnbereich Annaberg in der Seniorenresidenz St. Martin in Schweich hingegen ist schon voller Leben.
Marga, eine Frau mit kurzen weißen Haaren und tiefen Falten, die von ihrem Alter erzählen, hockt im Schlafanzug auf einer Holzbank im Flur. Sie weiß schon länger nicht mehr genau, in welcher Welt sie lebt. Egon, mit seinen 61 Jahren der Jüngste im Wohnbereich, spaziert in aller Herrgottsfrühe gedankenverloren auf und ab. Emil sitzt entspannt in einem Sessel, er schlummert friedlich.
Julia Kayser beginnt ihren Dienst. Sie ist 25 Jahre alt, Altenpflegerin und gerontopsychiatrische Fachkraft und Wohnbereichsleiterin. 15 Minuten Übergabe stehen zunächst auf dem straffen Frühschichtplan. Im speziellen Computersystem wird alles, was Personal und Bewohner tun, akribisch festgehalten.
"Was nicht dokumentiert ist, ist nicht gemacht", sagt Kayser. Und sie sagt, dass sich alle auf der Station duzen - dies sei einfacher für die demenzkranken Menschen. Von Nachtschwester Nicole erfährt sie unter anderem, warum Emil statt in seinem Bett im gemeinsamen Wohnbereich eingenickt ist. "Er war unruhig, hat sich diesen Platz in der Nacht gesucht", sagt Nicole. So viel Freiheit wie möglich sei wichtig, sagt Kayser.
Mit dem Bild von der Nacht im Gepäck beginnt sie die Pflege: "Gut geschlafen?", will die Wohnbereichschefin im Vorbeigehen von Marga wissen. Sie sitzt immer noch auf der Holzbank. "Abgebrochen. Ich habe überall Wackelkontakt. Aber Alkohol habe ich nicht getrunken", scherzt die 80-Jährige. Nach dem kurzen Plausch steuert Julia Kayser Mariannes Zimmer an: "Große Toilette", ein mit den Kassen vertraglich festgelegtes Leistungspaket, steht an.
Wie in allen der insgesamt 20 Wohneinheiten - 19 Einzel- und ein Doppelzimmer - stehen in Mariannes Zimmer eichefarbene Möbel: ein Pflegebett, ein Nachtschrank, eine Kommode, eine Garderobe sowie ein eingebauter Kleiderschrank samt integriertem Waschbecken. Zwei Pflegebäder und fünf Toiletten werden gemeinsam auf dem Flur benutzt. Gerahmte Fotos erinnern an Mariannes Familie und ganz persönlicher Nippes an ihre Vergangenheit. "Kommt mein Mann heute?", will die alte Dame wissen, bevor Julia Kayser ihr beim Auskleiden hilft. Das Ja der Pflegerin wirkt wie eine Beruhigungstablette auf die Demenzkranke.
Nach dem Eincremen mit der eigenen Marke, die einen vertrauten Duft um die Seniorin legt, putzt Marianne ihr Gebiss. "Ich habe kein Geld bei mir", stellt sie plötzlich erschrocken fest. Julia Kayser besänftigt sie wieder.
Nach 20 Minuten ist es Zeit, an die nächste Zimmertür zu klopfen. Ihrem freundlichen "Guten Morgen" schlägt diesmal ein mürrisches Grummeln entgegen. "Willst Du noch schlafen?", fragt Kayser. "Was denn jetzt?", sagt Hilda barsch und schält sich leicht widerwillig aus dem Bett. Ihr Zimmer ist kahl. Die Grundeinrichtung, drei Fotos, eines davon zeigt ihren verstorbenen Mann, stehen auf der Kommode, sonst nichts. "Sie hat kein gutes Verhältnis zu ihren Verwandten", erklärt die Wohnbereichsleiterin später.
In der noch neuen Schweicher Seniorenresidenz ist es möglich, dass die Bewohner etwa einen Lieblingssessel mitbringen. In dem gemeinschaftlichen Ess- und Wohnbereich stehen auch rustikale Möbel und Lieblingsstücke der Bewohner.Erinnerungen an das Leben


Elisabeth, eine alte Dame mit feinen Gesichtszügen rollt mit ihrem Rollstuhl in den Wohnbereich und stößt Laute aus, die wie ein leises Klagen klingen. "Sie hat Schlimmes im Krieg erlebt", erklärt Kayser, kurz bevor ein Alarm ihren Plan durcheinanderwirbelt. Hastig rennt sie die Stockwerke runter. Wenige Minuten später gibt sie Entwarnung. "Fehlalarm!"
Weiter geht\'s: waschen, eincremen, Damen- und Herrenbärte rasieren, Haare scheiteln, Ängste mit Worten oder dem Tätscheln der Hand vertreiben. Dann ist Frühstückszeit. Bevor Marmeladenbrötchen angerichtet und Kaffee und Saft ausgeschenkt, notwendige Medikamente gegeben werden, kommen die Raucher auf der Dachterrasse auf ihre Kosten.
Nach der Zigarettenpause geht es für das Pflegepersonal - insgesamt arbeiten im "Annaberg" vier Alten- und Krankenschwestern, zwei ausgebildete Altenpflegehelferinnen und vier Pflegeassistentinnen - hoch konzentriert und im Akkord weiter: 18 Omas und Opas haben Hunger und Durst "In Ernährungsprotokollen ist genau festgehalten, wie viele Kalorien und was, wer auf den Tag verteilt essen soll", sagt Kayser. So werde beispielsweise Untergewicht vorgebeugt. "Manche Bewohner sitzen eineinhalb Stunden am Tisch."
Es bleibt Zeit zum Dokumentieren. Der Wohnbereichsleiterin scheint der Spagat zwischen Pflege und liebvoller Umsorgung zu gelingen. Sie wirft noch mal einen Blick ins Zimmer: Alle sitzen zusammen - und doch jeder in der eigenen Welt.

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