Der verschwiegene Völkermord

Bitburg · Das, was sich im Winter 1932/33 in der Ukraine ereignete, ist im öffentlichen Bewusstsein kaum vorhanden: Damals sind mindestens sechs bis sieben Millionen Menschen verhungert. Das hätte nicht passieren müssen, denn die Hungersnot wurde politisch provoziert und vertuscht. Mit einer Gedenkfeier haben die Menschen in Bitburg der Opfer gedacht.

 Eine Gruppe von Studenten des Collegium Orientale der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt singt nach der Gedenkfeier im Pfarrheim St. Peter traditionelle, ukrainische Lieder. Im Hintergrund ist Lothar Penning zu sehen, der einen Vortrag über den Holodomor gehalten hat. TV-Foto: Jasmin Wagner

Eine Gruppe von Studenten des Collegium Orientale der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt singt nach der Gedenkfeier im Pfarrheim St. Peter traditionelle, ukrainische Lieder. Im Hintergrund ist Lothar Penning zu sehen, der einen Vortrag über den Holodomor gehalten hat. TV-Foto: Jasmin Wagner

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Bitburg. "Es gibt Themen in der Sowjetunion, über die man besser nicht redet", erzählt Nataliya Penning im Pfarrheim St. Peter in Bitburg. Zuvor hat es in der Pfarrkirche einen Gedenkgottesdienst für die Opfer der großen Hungersnot gegeben. Musikalisch gestaltet wurde die Messe von jungen Priestern aus Eichstätt (Bayern), die angereist waren, um ein byzantinisches Totengedächtnis zu singen. Zu der Gedenkfeier hatte der Deutsch-Ukrainische Freundschaftskreis eingeladen. Im Anschluss hielt Lothar Penning einen Vortrag über die Hungersnot, der von seiner Frau, Nataliya Penning, die 2002 aus der Ukraine nach Deutschland gekommen ist, mit ihren persönlichen Erinnerungen zum Holodomor ergänzt wurde.
Hunger als Waffe


Holodomor, das heißt Tötung durch Hunger. So wird die große Hungersnot 1932/33 in der Ukraine bezeichnet. Damals herrschte Josef Stalin in dem Land, das zur Sowjetunion gehörte. Seine Politik sah die Kollektivierung der Landwirtschaft vor: Der Privatbesitz der Bauern wurde zwanghaft in staatliche Genossenschaften überführt. Da die Bevölkerung Widerstand leistete und die Sowjetherrschaft nicht akzeptieren wollte, sollte sie bestraft werden.
Lothar Penning stellt fest: "Der Hunger wurde als Waffe gegen die Menschen eingesetzt." Als Stalin im November 1932 klar wurde, dass das Plansoll, also das von der Regierung festgelegte Wirtschaftsziel, für Getreide unerfüllbar war, ordnete er statt Hilfsmaßnahmen Strafen in der Ukraine an.
"Die selbstständigen Bauern waren mit der Kollektivierung nicht einverstanden. Stalin hatte Angst vor einem Machtverlust", so Penning. Die sogenannten Kulaken (russisch: wohlhabende Bauern) seien von Stalin als Volksschädlinge verurteilt worden. Wer die Zwangsabgabe an Getreide nicht leisten konnte oder wollte, wurde mit Naturalienstrafen belegt. Zusätzlich mussten die Bauern Fleisch in Höhe des fünfzehnfachen Satzes der Monatsnorm abliefern.
Doch damit nicht genug - es wurden oft sämtliche Nahrungsmittel eines Dorfes, seien es Rüben, Zwiebeln oder getrocknete Pilze, beschlagnahmt. Außerdem wurden schwarze Listen eingeführt. Alle Dörfer, die sich auf dieser Liste befanden, konnten nichts mehr in den Läden kaufen. Alle Waren wurden beschlagnahmt. Der sichere Tod für die Menschen. Auf diese Weise wurden ganze Dörfer ausgelöscht.
Wer flüchten wollte, wurde verhaftet: Stalin ließ die Ukraine abriegeln. Penning: "Das Land wurde in ein Ghetto des Hungers verwandelt." Im Frühjahr 1933 seien täglich 25 000 Menschen gestorben. Es habe sogar Fälle von Kannibalismus gegeben, so Penning. "Nach 17 Monaten war ein Viertel der ukrainischen Gesamtbevölkerung ausgelöscht." Der Hunger sei keine Naturkatastrophe gewesen, denn es sei genügend Weizen vorhanden gewesen. Allerdings ließ Stalin im Zeitraum zwischen 1932 und 33 ungefähr 2,1 Millionen Tonnen Weizen exportieren. "Eine Million Tonnen hätte gereicht, um fünf bis sechs Millionen Menschen zu ernähren."
Diese Hungersnot hat auch in Nataliya Pennings Familie Spuren hinterlassen. "Meine Mutter war zur Zeit des Holodomors zehn Jahre alt und lebte in der Westukraine." Da ihr Dorf von Wäldern umgeben gewesen sei, wo es Beeren und Nüsse gegeben habe, sei die Katastrophe für sie glimpflich ausgegangen. "Meine Mutter ist Zeit ihres Lebens sehr sorgfältig mit Lebensmitteln umgegangen. Sie hat nie etwas weggeworfen", so Penning. Ein Cousin in der Stadt, in Kiew, habe weniger Glück gehabt und sei gestorben.
Der Holdomor unter der Stalinführung wurde kaum thematisiert. In keinem Geschichtsbuch oder Zeitungsartikel wurde die Katastrophe erwähnt. "Die Verantwortlichen wurden nie zur Rechenschaft gezogen", ergänzt Lothar Penning. Erst in den Jahren 2003 und 2006 sei der Holodomor vom ukrainischen Parlament als Völkermord anerkannt worden. Einige Staaten, wie die USA, der Vatikan, Polen und Spanien, folgten. "Deutschland hat sich bis heute nicht dazu geäußert", so Penning. Im aktuellen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland wurde der Holodomor nicht mehr thematisiert. "Das wundert mich", meint Penning. Der Holodomor sei nach wie vor ein Mythos.
Im Anschluss an ihren Erfahrungsbericht gab es noch bei traditionell ukrainischen Speisen einen regen Austausch unter den rund 30 Besuchern im Pfarrheim.
"Ich wusste nicht, dass es eine so systematische Vernichtung damals gegeben hat", meint Hedwig Pelletier aus Bitburg. Der Vortrag habe einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen.

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