"Die Leute leben da"

BITBURG. Neun Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl wurde der Verein Kinderhilfe Tschernobyl im Kreis Bitburg-Prüm gegründet. Seitdem kommen jährlich Kinder und Jugendliche aus dem kontaminierten Gebiet zum Erholungsurlaub in die Eifel.

Tschernobyl ist jedem ein Begriff. Die Stadt in der heutigen Ukraine hat vor 20 Jahren die Menschen in Deutschland wie ein Sog vor die Fernseher gezogen. Dort saßen sie gebannt und betrachteten immer wieder die Bilder des durch Explosionen zerstörten Atomreaktorgebäudes. Ausnahmezustand. Auch Ullrich Papschik, Geschäftsführer des Vereins Kinderhilfe Tschernobyl im Kreis Bitburg-Prüm, beschäftigte das Thema. Aber Tschernobyl ist weit weg, und die Spätfolgen waren ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Als er 1993 in Langenlonsheim (Landkreis Bad Kreuznach) unterwegs war, viel ihm ein Flyer in einem Einkaufszentrum auf. Papschik: "Da wurden Leute gesucht, die Kinder aus der Region um Tschernobyl für vier Wochen aufnehmen." Zurück in der Eifel fragte der Befürworter erneuerbarer Energien bei Nachbarn nach und verteilte Flyer, um herauszufinden, wie groß die Breitschaft ist, Kinder aus Weißrussland in ihrer Familie aufzunehmen. 45 Kinder brachte er schließlich durch sein Engagement in Gastfamilien unter. Nicht immer leicht erwies sich deren Aufenthalt in Deutschland. Einige hatten Heimweh. Die Sprachbarriere trug sicherlich ihren Teil dazu bei. Papschik: "Einige Kinder wurden auch unzureichend von ihren Eltern aufgeklärt. Sie dachten, nur einige Tage in Deutschland zu verbringen", sagt Papschik. Damit der Aufenthalt auf Zeit in der Gastfamilie doch noch zu einem vollen Erfolg wurde, half manchmal schon ein Wörterbuch und ein bisschen Mimik und Gestik.Auch die Gasteltern besuchten die Kinder

Papschik war insgesamt zweimal im Regierungsbezirk Gomel (Weißrussland), der etwa 200 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt. Dort machte er die Erfahrung, dass die Menschen die Ausweisung für einen Sperrbezirk wie ein "veraltetes Verkehrsschild" betrachten. Papschik weiß, dass die Menschen dort ohne Alternativen leben. Von einem Umzug in eine andere Region ganz zu schweigen. Diese Ausweglosigkeit schockiert Papschik: "Was sollen sie auch tun, die Leute leben da." Auf dem Tisch hat er eine Landkarte ausgebreitet. Darauf sind rote und blaßrote Felder markiert: Zonen mit hoher Kontamination radioaktiver Teilchen. Der Regierungsbezirk Gomel, im Südosten von Weißrussland gehört dazu. Von dort kommen auch die Kinder und Jugendlichen, welchen der 1995 gegründete Verein Kinderhilfe Tschernobyl im Kreis Bitburg-Prüm eine Gastfamilie in der Eifel vermittelt. Viele von ihnen leiden an Hauterkrankungen, Herzerkrankungen und einem geschwächten Immunsystem. Von Jahr zu Jahr kann Papschik auf immer mehr Wiederholungseinladungen zurückblicken. In diesem Jahr sind von 30 Vermittlungen nur etwa vier Kinder zum ersten Mal dabei. Bei den anderen hat sich allmählich ein großes gegenseitiges Vertrauen entwickelt. Auch die Gasteltern besuchten das Heimatland ihrer Schützlinge und scheuten sich nicht, mit ihnen unter manchmal ärmsten Bedingungen zu leben. Der Erfolg der Kinderhilfe Tschernobyl lässt sich nicht nur an den strahlenden Kinderaugen ablesen. Auch Zahlen spiegeln ihn wider: In 13 Jahren vermittelte der Verein rund 1450 Kinder aus Weißrussland in die Eifel. Zum Gedenken an die Opfer findet am heutigen Mitttwoch, 26. April, um 19 Uhr in der Pfarrkirche von Wallersheim ein ökumenischer Gottesdienst statt, der vom Projektchor Rommersheim musikalisch gestaltet wird. Motto: "Gedenken - Umdenken - Danken". Kontakt: Ullrich Papschick (Telefon 06561/604365. Zeitzeugen-Berichte zu Tschernobyl finden Sie auf SEITE 20.

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