Die Not, die keiner sieht: Armut grenzt aus Und dann das Gefühl: Du hast es nicht geschafft

Nach einem Bericht der Bundesregierung gilt jeder Achte in Deutschland als arm - Tendenz steigend. Drei Millionen Haushalte sind überschuldet. Der Sozialverband VdK fordert inzwischen einen nationalen Aktionsplan gegen Armut. Kinder leiden besonders unter Armut, ist ihr Leben doch damit so vieler Chancen beraubt. Das ist auch in der Eifel nicht anders. "Die Weihnachtsbaum-Aktion gibt einem den Glauben an das Gute zurück", sagt Claudia Meyer. Vor Jahren zauberten die Geschenke, die sie dank dieser Aktion zu Weihnachten bekam, ihren Kindern ein Lächeln in die Augen, das die Mutter nicht vergessen wird. Dieses Jahr will sie selber helfen: "Wir haben zwar nicht viel. Aber ein Blech Plätzchen backen geht."

Bitburg. Sie fahren nicht mit auf Klassenfahrt, sie gehen nicht zum Turn- und Schwimmunterricht, sie tauchen auf keinem Sportfest auf und für Hobbys reicht das Geld schon lange nicht mehr: Kinder aus armen Familien müssen auf so vieles verzichten, was gemeinhin als selbstverständlich gilt.

"Im Eifelkreis leben rund 600 Kinder in armen Haushalten. 300 weitere Kinder teilen im Kreis Vulkaneifel dieses Schicksal", sagt Michael Fasen, Fachbereichsleiter der Schuldnerberatung des Caritasverbands Westeifel. Mehr als 2300 Menschen sind im Eifelkreis auf staatliche Unterstützung (Hartz IV oder Arbeitslosengeld II) angewiesen.

Aus Scham wird die Not versteckt und verschwiegen



Arm sein gilt in unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft als Makel. Aus Scham wird die Not versteckt, verschwiegen und verheimlicht. Lieber schwänzen Kinder den Schwimmunterricht, als zugeben zu müssen, keine Badehose zu haben. Armut grenzt aus.

Die Weihnachtsbaum-Aktion, die Karin Becker-Bujara vor 14 Jahren initiiert hat und seither in Zusammenarbeit mit der Caritas anbietet, hilft dort, wo es für das Nötigste nicht mehr reicht. Warme Federbetten stehen etwa auf einem der Wunschzettel. Ähnlich wie ein paar Winterschuhe oder neue Unterwäsche. Dinge, die sich normalerweise kein Kind wünscht, sondern für selbstverständlich hält.

Doch für eine wachsende Zahl von Familien hat es längst aufgehört, selbstverständlich zu sein, das Alltägliche gestemmt zu bekommen. Kinder aus 25 Familien, die die Caritas aus der laufenden Beratung kennt, hoffen dieses Jahr, dass ein Christkind ihren Wunschzettel am Weihnachtsbaum bei Karin Becker-Bujara entdeckt.

Wer möchte, kann auch eine Patenschaft für Schwimmkurse, Musikunterricht, Mitgliedschaften in Sportvereinen oder monatliches Taschengeld übernehmen. Auch Geldspenden sind willkommen. So wird die Hilfe passgenau für die Familien über das ganze Jahr verteilt. "Das ermöglicht uns, Familien bei Ereignissen wie Schulstart oder Kommunion mit Gutscheinen zu unterstützen", sagt Mathilde Geimer von der Familienhilfe der Caritas. Mehr als 20 000 Euro kamen dank der vielen Spender im Vorjahr zusammen. Initiatorin Karin Becker-Bujara ist gerührt davon, wie sehr sich die Beschenkten über diese Hilfsbereitschaft freuen: "Was uns vielleicht wenig erscheint, ist für die betroffenen Menschen unglaublich viel wert."



Weihnachtsbaum-Aktion: Ab sofort stehen wieder bei Reifen Becker (Saarstraße) und im Autohaus Schaal (Auf Merlick) die "helfenden Weihnachtsbäume" von Karin Becker-Bujara mit den Wunschzetteln der armen Kinder. Bereits der Kuchenverkauf bei der Kommunions-Ausstellung am Wochenende geht zugunsten der Aktion.

Spenden-Konten: Volksbank Bitburg (BLZ: 58660101), Empfänger: Weihnachtsbaum-Aktion, Kontonummer 202056446. Oder an den Caritasverband: PAX Bank eG Trier (BLZ 37060193; Kontonummer: 3003939). Bitburg. (scho) Der Weg von Claudia Meyer (Name von der Redaktion geändert) in die Armut ist der Weg vieler Frauen: Heiraten, Kinder, Scheidung. Nach einem Bericht der Bundesregierung sind die Kinder von Alleinerziehenden in 40 Prozent der Fälle von Armut bedroht. "Man hat geheiratet, gemeint, man hätte es geschafft und dann steht man da", sagt die 29-jährige Frau, Mutter zweier Kinder. Nach der Scheidung geriet sie in finanzielle Not. "Es war ein Kampf, bis ich mit Hilfe des Gerichts endlich Unterhalt von meinem Ex-Mann bekam", sagt die Frau.

Bis zur Geburt ihres ersten Kindes hat sie in ihrem Lehrberuf gearbeitet. Dann ist sie ausgestiegen und hat sich ganz der Familie gewidmet. "Ich bin selbst aus schwierigen Verhältnissen und wollte es für meine Kinder besser machen", sagt Claudia Meyer. Doch nach der Scheidung ging erstmal nichts mehr.

Glückliche Augen dank Koffer mit Geschenken



"Das Geld hat hinten und vorne nicht mehr gereicht. Wenn Schulbücher anstanden oder die Kinder neue Kleidung brauchten, war ich am Ende", sagt die Mutter. Klein habe sie sich gefühlt, sei mit hängenden Schultern durchs Leben gegangen. "Man schämt sich und hat dieses Gefühl: Du hast es nicht geschafft."

Sich selbst zermürbend fragte sich die junge Mutter immer wieder, warum ausgerechnet ihr "so was" passiert ist, bis sie sich einen Ruck gab und Hilfe suchte.

Sie ließ sich von der Caritas beraten und nahm so auch an der Weihnachtsbaum-Aktion von Karin Becker-Bujara teil. "Meine Tochter hatte sich einen Koffer gewünscht, damit sie mit auf Klassenfahrt fahren kann. Dann lag Weihnachten der Koffer unter unserem Baum, und er war voll gepackt mit Klamotten und ein paar Süßigkeiten, der war reisefertig. Und dann lag noch eine Weihnachtskarte oben drauf" Wenn Claudia Meyer die .Geschichte erzählt, stehen ihr noch heute die Tränen in den Augen. Denn das Leuchten in den Augen ihrer Tochter, die damals den Koffer auspackte, wird sie nicht vergessen. "Es gibt noch Leute, die glauben an einen. Das hat mir neue Energie gegeben. Und die Hoffnung, es geht doch", sagt Claudia Meyer. Sie rät allen Betroffenen, sich möglichst früh helfen zu lassen und nicht erst dann, wenn überhaupt nichts mehr weiter geht. Heute arbeitet die Mutter wieder Teilzeit, hat die Krise überwunden: "Ich habe mein Leben jetzt wieder im Griff. Diese schwere Zeit durchzustehen hat mich stark gemacht. Und darauf bin ich wirklich stolz." Seither beteiligt sie sich auch selbst an der Weihnachtsbaum-Aktion. Als Spenderin: "Ich sage zu meinen Kindern, wir können dankbar sein und etwas abgeben. Wir haben nicht viel. Aber ein Blech Plätzchen backen geht. Wer einmal wirkliche Hilfe erfahren hat, gibt das auch weiter. Jeder kann in eine solche Situation geraten. Wem das erspart bleibt, der hat Glück."

Meinung

Armut geht alle an

Eine Gesellschaft, die sich gerne mit dem Prädikat "sozial" ziert, darf über die Probleme armer Menschen nicht einfach hinwegsehen. Stammtisch-Parolen von Sozial-Schmarotzern sind vermessen gegenüber Menschen, die sich aufrichtig mühen und bei denen es am Ende doch gerade nur für das Nötigste reicht. Ob durch Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Tod des Partners - Armut kann jeden treffen und schon allein das sollte Basis für Mitgefühl und Hilfsbereitschaft sein. Auch wenn sich Betroffene aus Scham verstecken, ist die Not mit Alters-, Familien- und Kinderarmut längst vor unserer Haustür angekommen. Ignorieren macht es nur schlimmer. Neben Direkthilfe ist eine ernste Beschäftigung mit dem Thema gefragt, damit die gern verdrängte Armut in unserer Gesellschaft sich nicht zu einem Sprengsatz entwickelt, der irgendwann hochgeht - und am Ende auch jene trifft, die sich in ihrem Wohlstand so sicher glaubten. Auch wenn es unbequem ist: Armut geht jeden an! d.schommer@volksfreund.deMehr Arme, weniger Reiche: Armut und ungleiche Verteilung der Einkommen haben nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zwischen 2000 und 2005 in Deutschland so stark zugenommen wie in keinem anderen Industrieland. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die in relativer Armut leben, liege inzwischen über dem OECD-Mittel, hieß es. Gleichzeitig stiegen höhere Einkommen überproportional an. Als arm gilt, wer weniger als die Hälfte des gemittelten Einkommens der Bevölkerung in einem Land bezieht (rund 750 Euro netto). Die Armutsquote stieg in Deutschland zwischen 1995 und 2005 von elf auf 16 Prozent und damit fünfmal so schnell wie im OECD-Durchschnitt. (scho)

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort