Die Schweine schrien, und wir schrien auch

Heute bin ich 67 Jahre alt, und obwohl ich damals erst sieben Jahre war, ist mir das Erlebnis sehr lebendig in Erinnerung geblieben. Es war Samstag, der 23. Dezember 1944. Unser Ortsbürgermeister kam mit der Information, dass Soldaten bei uns über die Feiertage einquartiert werden. Es kamen sehr viele. Sie wurden im gesamten Dorf verteilt. In unserer guten Stube, die meine Mutter wegen der anstehenden Feiertage auf Hochglanz gebracht hatte, schlugen sie ihre Betten auf. Die Pferde wurden einfach in unseren Stall gestellt, und in der Scheune parkte ein Munitionswagen. Die Soldaten wurden auf ihrem Weg nach Gelenberg von feindlichen Fliegern verfolgt. Es standen Leuchtschirmchen am Himmel. Meine Mutter hatte große Sorge und ahnte schon, was auf uns zukommen sollte.An Heiligabend gingen wir nach Bongard zur Kirche, nachdem meine Mutter, Helena Leif, das Vieh versorgt. Sie lebte als Anfang 30-Jährige schon alleine mit meinem Bruder Felix, vier Jahre alt, und mir. Unser Vater war 1943 im Krieg gefallen. Es war ein kalter Wintertag mit etwas Schnee und einem klaren blauen Himmel. Nach dem Mittagessen lief ich, wie so oft, zu unserer Nachbarin, Frau Gertrud Peters (Hausname: Deckepitisch Traut).Getrud blieb zurück, wir gingen in den Stall

Sie war 35 Jahre alt und lebte alleine im Haus. Ihr Bruder war ebenfalls schon im Krieg gefallen. Ich trug ihr schon mal Holz ins Haus und bekam dafür manchmal auch etwas geschenkt. Voller Sorge und Unruhe rief mich meine Mutter plötzlich nach Hause. Sie sagte auch zu Gertrud, dass sie mit uns kommen solle. Aber Gertrud sagte, dass sie vielleicht später nachkommen wolle, sie müsse noch spülen und schließlich sei das Haus voller Soldaten. Der Franzose Michel, der ihr bei der Arbeit half, begleitete meine Mutter, meinen Bruder und mich nach Hause in den Stall. Gertrud blieb zurück.Michel war einer von mehreren französischen gefangenen Soldaten, die bei den Bauern arbeiten mussten, weil die Männer im Krieg waren. Im Stall sollte noch eine Kuh gemolken werden, um den kleinen, neu geborenen Kälbchen Milch zu geben. Ich lief in den neben dem Kuhstall liegenden Schweinestall, in dem außer den Schweinen auch noch Schafe und Hühner ihr Zuhause hatten. Ich holte ein frisch gelegtes Ei aus dem Nest. Ich hatte gerade den Schweinestall verlassen, da gab es einen schrecklichen Knall. Es war als ob es donnere. Dicke Steine kamen uns entgegen geflogen. Die Schweine schrien. Wir schrien. Eine Bombe war in den Stall gefallen. Es stank fürchterlich nach Schwefel. Die Schweine, Schafe und Hühner waren tot. Staub flog durch die Luft. Der Franzose Michel holte meinen Bruder und mich und stellte uns an eine dicke Mauer zur Scheune hin. Nach einer Weile sind wir dann hinaus gerannt, am Haus vorbei, oberhalb davon auf unsere Wiese. Unsere Nachbarin Katharina Wagner lief mit ihrem drei Monate alten Sohn Peter, den sie in einen ovalen Weidenkorb gelegt hatte, ihrer Schwester Anna und dem Franzosen Marius in den Wald. Sie berichteten, dass das Haus von Gertrud von den Bomben ganz zerstört sei. Ich weinte sehr und wollte, dass meine Mutter mit uns ebenfalls in den Wald ging. Wir mussten aber zuerst noch ins Haus, warme Wintersachen anziehen.Wir gingen am Hintereingang zurück ins Haus. Soldaten kamen und brachten verwundete Kameraden zu uns. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, das Dach war zerlöchert. Meine Mutter öffnete die Haustür und wir schauten auf die Straße und rüber zu Gertruds Heim. Ihr ganzes Haus war zerbombt. Unser Mistplatz war nicht mehr zu sehen, nur ein großes Loch. Es waren viele Bomben gefallen, fast alle zwischen die Häuser.Ich stand an der Haustür. Da kamen Soldaten und trugen Gertrud gegenüber in das Haus von Katharina Wagner. Sie war noch nicht tot, und sie schaute so nach mir. Meine Mutter holte uns einen warmen Mantel und eine Jacke. Alle Leute liefen in den Wald. Ich hatte solche Angst.Sie wälzte sich von einer Seite zur anderen

Ich wollte auch in den Wald. Vorher gingen wir in das Haus, in das man Gertrud hineingetragen hatte. Man hatte sie auf den Boden auf eine Soldatendecke gelegt. Sie wälzte sich vor Schmerzen von einer Seite zur anderen. Sprechen konnte sie gar nichts mehr. Ich habe geweint und wollte nur weg. Es war so schrecklich. Meine Mutter ist dann auch mit meinem Bruder und mir zu den anderen in den Wald gegangen. Bis dorthin war es nicht sehr weit.Als wir nachher wieder zurückkamen war Gertrud tot. Der Pastor von Bodenbach war gekommen und hatte für sie gebetet. In Gertruds Haus sind später auch noch Soldaten gestorben. Abends hatten wir kein Licht mehr. Der Lichtmast war auf unsere Scheune gefallen. Wir hatten nur Kerzen und für den Stall eine Petroleumlampe.Es war Heiligabend und wir haben abends gebetet - aber das Christkind ist nicht gekommen.Am nächsten Morgen kam der Franzose Michel und brachte mir eine kleine Wiege mit einem Püppchen drin, die hatte noch auf der Fensterbank in der Schlafkammer bei Gertrud gestanden. Es waren sehr traurige Weihnachten. SMaria Lenarz , geborene Leif, ist aufgewachsen in Gelenberg. Sie wohnt dort bis heute im elterlichen Haus und hat in der Landwirtschaft gearbeitet.

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