Freiwillig zurück auf die Anklagebank

BITBURG. Bevor sich das Eifelliteratur-Festival in die Sommerpause verabschiedet hat, las der Millionendieb Ludwig Lugmeier mit Märchenonkel-Stimme aus seiner Autobiografie "Der Mann, der aus dem Fenster sprang".

Der Gerichtssaal ist voll. Zwei Scheinwerfer strahlen auf den Zeugenstand. 120 Zuhörer rutschen gespannt auf ihren Stühlen hin und her. Dann ertönt eine Klingel. Vielen zuckt es in den Beinen. Ein Reflex aus der Schulzeit. Nur wenige verbinden ihren Aufenthaltsort mit einem Gerichtssaal. Es ist eben einiges anders als bei einer normalen Verhandlung. Im Foyer gibt's Bier, der Zeugenstand ist direkt aufs Publikum ausgerichtet. Und der "Hauptangeklagte" lehnt entspannt im Türrahmen. "Der Veranstaltungsort stand bereits fest, bevor der Autor feststand", versichert Werner von Schichau, Richter am Bitburger Amtsgericht. Autor Ludwig Lugmeier hat eine enge Beziehung zu Gerichtssälen. Bereits mit 15 Jahren sah er den ersten von innen. 13 Jahre und einige Überfälle später eroberte er die Schlagzeilen in Deutschland, als er während seiner eigenen Verhandlung aus dem Fenster des Frankfurter Gerichts sprang. Lugmeiers Raubüberfälle in den 70er-Jahren galten als die spektakulärsten der deutschen Nachkriegszeit. "Guten Abend, meine Damen und Herren. Einer der beiden Angeklagten im Prozess um den größten Raubüberfall in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik, der 25-jährige Lugmeier, ist heute aus dem Frankfurter Gerichtsgebäude, wo gegen ihn verhandelt wurde, geflüchtet. Zusammen mit seinem Mitangeklagten Linden soll Lugmeier im Oktober '73 zwei Millionen Mark aus einem Transportwagen der Dresdner Bank geraubt haben." Eifel-Literatur-Festival-Chef Josef Zierden macht auch in der Rolle des Tagesschau-Sprechers eine gute Figur. Die Fenster im Bitburger Gerichtssaal sind vorsichtshalber geschlossen. Lugmeier blickt raus: "Aus ungefähr derselben Höhe bin ich damals gesprungen", sagt er. Egal ob er Auszüge aus seiner Autobiografie liest oder zwischendurch mit Märchenonkel-Stimme Geschichten aus seinem Leben erzählt - Lugmeier zieht die Zuhörer in seinen Bann. Wenn er als Junge mit seiner geliebten Großmutter durch die Leichenhäuser der Gegend zog oder er fesselnde Piratengeschichten las, konnte er "aus der mir zutiefst verhassten Welt von Schule und Kirche" entfliehen. Wenn er Groschenhefte wie Jerry Cotton las, stellte er sich auf die Seite der Gangster - alles andere war zu normal, zu konventionell, zu spießig. Mit 15 Jahren - damals musste Lugmeier zum ersten Mal ins Gefängnis - machte er die literarische Bekannschaft mit Jack Bilbo. "Bereits als 15-Jähriger war der in den Dienst von Al Capone getreten und wurde sein Leibwächter. Der zeigte mir, was man mit 15 schon zustande gebracht haben konnte." Ganz anders als er selbst. Dass Fiktion und Realität nichts miteinander zu tun haben müssen, merkt Ludwig, als er zum ersten Mal aus dem Knast flieht und in Palermo bei der Mafia anheuern will. "Dort wurde mir klar, dass seine Geschichten so nicht ganz stimmen konnten." Bei Lugmeier trifft Pistolenromantik auf grauen Gefängnisalltag. Der Millionendieb, der als Kind davon geträumt hatte, ein Leben wie die Piraten in seinen Büchern zu führen, der auf seinen Fluchten etliche ihrer Häfen gesehen hatte und dann bemerkte, dass Poesie im wahren Leben selten ist - und nicht von Dauer. Aus dem verträumten Jungen war ein Verbrecher geworden, Verbrecher werden gefasst, und dann ist Schluss mit der Poesie und der Romantik. Die Realität sieht anders aus. In Gerichtssälen hält sich der geläuterte Lugmeier heute nicht mehr auf. Für das Eifelliteratur-Festival macht er eine Ausnahme - und fühlt sich bedeutend entspannter als vor 30 Jahren. Im Namen der Bitburger Zuhörer ergeht folgendes Urteil: unterhaltsam, spannend und abschreckend zugleich.

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