Furcht vor Belgiens Alt-Meiler

Lüttich · Eine Wiener Studie kommt zu dem Ergebnis, dass im Falle eines Austritts von Caesium 137 aus dem Atomkraftwerk im belgischen Tihange auch die Region Prüm evakuiert werden müsste. In Nordrhein-Westfalen wird über die Konsequenzen aus diesem Gutachten diskutiert.

Lüttich. Nach der Reaktor-Katastrophe im japanischen Fukushima hat die Bundesregierung die Alt-Meiler vorläufig vom Netz genommen. Doch selbst ein schneller Atom-Ausstieg, den Schwarz-Gelb zurzeit zu favorisieren scheint, würde den Kreis Euskirchen und die Eifel nicht vor den Folgen eines möglichen Gaus (größter anzunehmender Unfall) bewahren. Das Atomkraftwerk (AKW) Tihange in Belgien liegt nur 107 Kilometer von Euskirchen und 83 Kilometer von Hellenthal entfernt. Zum Vergleich: Das nächstgelegene deutsche AKW Biblis liegt in 157 Kilometern Entfernung zur Kreisstadt Euskirchen.
In einer Studie der Universität für Bodenkunde Wien beschäftigt sich Petra Seibert mit einem simulierten Super-Gau im AKW Tihange. Bei einem Austritt von Caesium 137 und ungünstiger Wetterlage würden Aachen und die Eifel-Gemeinden Monschau, Hellenthal und Prüm zum ,,langfristig unbewohnbaren Gebiet\'\'.
Ein derartiges Katastrophen-Szenario zeitigt politische Reaktionen: Die Grünen aus Düren forderen eine sofortige Abschaltung des belgischen Meilers. Die Aachener SPD kritisiert eine mögliche Laufzeitverlängerung. In Weilerswist fordert Liane Traue (Grüne) Bürgermeister Peter Schlösser auf, die belgische Regierung mit Nachdruck zum Abschalten des Alt-Meilers zu bewegen. Der Gemeinderat solle eine entsprechende Resolution beschließen.
Rückendeckung erhält Traue von ihrem Parteifreund, Oliver Krischer. Der Dürener Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Fördervereins Nationalpark Eifel ist Mitglied des Ausschusses für Reaktorsicherheit: ,,Die Reaktorblöcke in Tihange sind mit 26, 29 und 36 Jahren sehr alt. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls steigt alleine schon durch den Verschleiß der Bauteile.\'\' Er zweifelt zudem die Erdbebensicherheit des Kraftwerks an. ,,Die von der Atomaufsichtsbehörde angegebene Sicherheit bis zu 5,9 auf der Richterskala ist in Anbetracht des Bebens von 1992 im nur 90 Kilometer entfernten Roermond mit eben diesem Wert nicht zufriedenstellend.\'\'
Mehrere Störfälle


Laut MdB Detlef Seif (CDU) ist der Traue-Antrag ,,formal falsch\'\'. Außenpolitik sei Sache des Bundes. ,,Ich habe zwar Verständnis, aber es macht keinen Sinn, wenn jede Kommune nach Belgien schreibt.\'\' Seif hält es indes für richtig, die ,,Risiken der Kernenergie\'\' schnell zu überwinden. Das dürfe aber nicht zulasten der Energieversorgungs-Sicherheit, der Strompreise und des Klimaschutzes passieren. Außerdem würden zur Stunde die Energieminister in Budapest über den ,,Stresstest\'\' beraten, also die Sicherheitsüberprüfung aller AKW in der EU.
Von Minister-Gipfel und freiwilligem Stresstest verspricht sich Krischer indes herzlich wenig: ,,Das ist purer Aktionismus. Wir haben in Europa Regeln für die Krümmung von Bananen, aber keine einheitlichen Standards für die Sicherheit von AKW.\'\'
,,Wir wollen die alten Meiler abschalten\'\', betonte MdB Gabriele Molitor (FDP), ,,aber wir müssen auch dafür sorgen, dass wir dann keine Kern-Energie von alten Meilern aus den Nachbarländern beziehen\'\'. Dies würde nämlich bedeuten, dass Alt-AKW wie Tihange und Cattenom länger am Netz blieben.
Laut Krischer kam es in Tihange in der Vergangenheit zu mehreren Störfällen. Das aktuell gültige Gesetz von 2003 sehe vor, dass die belgischen Atomkraftwerke nach 40 Jahren Laufzeit geschlossen werden sollten - also Tihange 1 im Jahr 2015. 2009 hätten aber Energie-Minister Paul Magnette und Premier Herman Van Rompuy vor dem Hintergrund leerer Staatskassen gegen entsprechende Millionenzahlungen des Kraftwerk-Eigentümers eine Laufzeitverlängerung von zehn Jahren beschlossen. Diese Regierung sei aber Anfang 2010 gestürzt worden, bevor sie die Laufzeitverlängerung habe festzurren können. Daher gelte zunächst weiterhin der Ausstieg nach 40 Jahren Laufzeit. Landrat Günter Rosenke kündigte Mittwoch an, er wollte das ,,Thema Tihange\'\' im Rahmen der Landräte-Konferenz in Aachen ,,mit meinen Kollegen besprechen\'\'. Im Falle eines Falles seien ja auch mehrere Landkreise betroffen.
Keine Erkenntnisse


Gibt es im Fall einer Katastrophe in Tihange Notfallpläne? Krischer stellte diese Frage dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Antwort aus Berlin liegt vor. ,,Das belgische Kraftwerk Tihange ist knapp 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Gemäß Rahmenempfehlung für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen reichen Katastrophenschutz-Planungen bis zu einer Entfernung von 25 Kilometer um die jeweilige Anlage. Dies gilt auch für ausländische, nahe der Grenze zu Deutschland gelegene Kernkraftwerke (...)\'\' Und weiter: ,,Nur für die Katastrophenschutz-Maßnahme ,Jodblockade\' (Einnahme von Jodtabletten) wurde in Deutschland für ,Jugendliche bis 18\' und ,Schwangere\' ein Planungsradius von 100 km festgelegt.\'\' Krischer wollte auch von der Bundesregierung wissen, welche Informationen sie über Sicherheitseinrichtungen (Notkühlsysteme) und Risikolagen (Erdbeben, Hochwasser oder Flugzeugabstürze) der Druckwasser-Reaktorblöcke Tihange 1 bis 3 hat.
Antwort: ,,Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor.\'\'
Die belgische Atompolitik sorgte im Kreis Euskirchen Mitte der 1990er Jahre für Unruhe, als der belgische ,,Nationale Dienst für radioaktiven Abfall und angereichertes Spaltmaterial\'\' prüfte, ob sich ein 900 Hektar großes Areal in der belgischen Grenzgemeinde Amel, wenige Kilometer von der Gemeinde Hellenthal entfernt, als mögliches Endlager für schwachradioaktiven Atommüll eigne, der bis dahin im Meer versenkt worden war. Gegen diesen Standort, einer von insgesamt 98, die in Belgien unter die Lupe genommen wurden, regte sich auf beiden Seiten der Grenze erheblicher Widerstand. Höhepunkt der Proteste war im September 1994 ein großer Sternmarsch der Bürger. Zu einem Endlager in Amel kam es allerdings nicht. ch

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