Immer wieder "Gegrüßet seist du Maria"

Der 26. Februar 1945. In den letzten Tagen und Wochen schlagen immer wieder Granaten ein, die von den heranrückenden Amerikanern von den Höhen der Sauer abgefeuert werden. Während an den bisherigen Tagen immer wieder Granaten mit lautem Getöse einschlagen, ist an diesem 26. Februar kein Einschlagen zu hören; eine gespannte Ruhe liegt über diesem Morgen. Da auf einmal, gegen 1 Uhr Mittag kommen einige deutsche Soldaten vom Wald her, aus Richtung Holstum, wo inzwischen die Front angekommen ist. Leute aus dem Dorf stehen auf der Straße und unterhalten sich. Irgendetwas liegt in der Luft. Am frühen Morgen zieht ein Flugzeug brummend seine Bahn über Dorf und Umgebung. Man vermutet zu Recht ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug. Die deutschen Soldaten, die aus Richtung Front kommen, drücken sich an den Häusern entlang, um nicht von der Gegenseite gesehen zu werden. Sie tragen außer ihrem Gewehr Handgranaten am Gürtel."Ab in den Keller, der Ami greift an!"

Die deutschen Soldaten zeigen hinauf auf den Wald, zum Giehberg, einer bewaldeten Berghöhe über dem Dorf, von dem man einen guten Blick auf das ganze Dorf hat. Später findet man dort ausgehobene Gräben mit vielen Geschosshülsen; diese sind zwischen den Bäumen so angelegt, dass man eine gute Sicht auf die Straßen und Häuser des Dorfes hat. "Geht in die Keller, der Ami sitzt oben im Wald und wird bald angreifen!", so einer der deutschen Offiziere. Schon bald danach hört man MG schießen, worauf alle sich schnell in die Keller begeben. Im Keller meines Elternhauses gegenüber der Mühle halten sich meine Familie und der Nachbar Klaus Fandel auf. Unser Keller hat ein Gewölbe, das eher Druck von oben aushalten kann. Das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer nimmt immer mehr zu. Über dem Keller hört man eilige Stiefelschritte. Wahrscheinlich von deutschen Soldaten, die sich in Richtung außerhalb des Dorfes und weiter in Richtung Meckel zurückziehen. Man hört die Einschläge von MG-Geschossen auf unser Haus, das später wie ein Sieb gepunktet aussieht. Wir beten mit der ganzen Familie den Rosenkranz: Immer wieder "Gegrüßet seist du Maria...". Wie eindringlich werden diese Worte gesprochen, während fast ununterbrochen Gewehrschüsse und MG-Feuer zu hören ist. Nach einer Stunde etwa hört man draußen Stimmen; man hört Englisch sprechen und die Stimme des Nachbarn, des Müllers Johann Hauer. Er war lange im ersten Weltkrieg an der Front; er kennt diese Situation. Vater und der Nachbar haben eine weiße Fahne vorbereitet; sie gehen nach draußen, indem sie mit der Fahne winken. Der Müller spricht lauthals zu den amerikanischen Soldaten: "Hier in diesen Häusern ist kein deutscher Soldat! Ihr könnt mich erschießen, wenn das nicht stimmt!" Er wiederholt es immer wieder. Mein Vater bittet einen amerikanischen Soldaten, mit ihm in den Keller zu kommen, dort sei kein deutscher Soldat. Wie sich herausstellt, ist dieser ein Offizier, der fließend deutsch spricht. Er kommt in den Keller. Seit Herbst 1943 besuche ich das Gymnasium in Bitburg und bringe nun meine ersten englischen Vokabeln an: "Good day!", sage ich zu dem amerikanischen Offizier. Er drückt mich an sich und sagt: "Ich habe Zuhause auch einen Jungen so alt wie Du!" Die Mutter bietet ihm eine Tasse Milch an, die er gerne annimmt. "Ja" sagt der Offizier, "wir haben seit drei Tagen nichts mehr zum Essen gehabt!" Dann sagt der Vater ihm, dass man doch bald den Krieg überstanden habe. Worauf der Amerikaner sagt: "Nur noch wenige Tage. Das Übrige machen unsere Flugzeuge!" Als das meiste Schießen aufgehört hat, wage auch ich mich hinaus aus dem Keller auf die Straße, die voller amerikanischer Soldaten ist. Man sieht amerikanische Panzer und Geschütze. Man ist heilfroh, nun "alles hinter sich zu haben!" Das Elternhaus ist durch Granatbeschuss zu zwei Dritteln zerstört. In der Nacht hört man ein Klopfen und Hämmern. Die Brücke über die Nims war von den Deutschen noch am Tag vorher gesprengt worden. Am Morgen sieht man zwei Notbrücken, die die amerikanischen Pioniere gebaut haben. Drüben über der Brücke ist das Haus Nicolay, das Haus des Bürgermeisters. In dem Keller dieses Hauses hält sich auch eine Familie auf, die Familie meines Freundes Matthias. Über diese Brücke gehe ich hinüber, ohne dass ein amerikanischer Soldat mich daran hindert. Es ist für uns beide besonders spannend, was man hier alles sehen kann: Große amerikanische Panzer und Geschütze. Jeeps mit Soldaten, die hin und her fahren. Hinter dem Dorf sieht man amerikanische Infanterie, die in Richtung Meckel/Kaschenbach weiter vorgeht. Ein Jeep hält vor uns an, auf der Windschutzscheibe liest man auf einem Schild "Press". Soldaten steigen aus und nehmen ein großes Gerät heraus. Wir beide wissen nicht, ob es vielleicht ein Schießgerät ist. Sie drehen es in Richtung des Hauses Nicolay, auf dem über dem Eingang das Schild "Bürgermeister" steht. Dann richten sie es weiter auf die Umgebung und zuletzt auf uns beide. Ich sage meinem Freund: "Die werden doch nicht auf uns schießen?" Das Gerät ist in Wirklichkeit eine Kamera der Kriegsberichterstatter. Jahre später wird ein Mann, der sich in Amerika in einem Filmcenter umsieht, genau diesen Film finden. Man sieht darin das Haus Nicolay, Panzer und Soldaten und uns beide, die wir ängstlich und gebannt schauen. Zur gleichen Zeit als der Müller mit den amerikanischen Soldaten spricht und der Vater mit dem Nachbarn, die weiße Fahne in der Hand, nach draußen geht, ereignet sich in der Nachbarschaft am Haus der Familie Schmitt-Schwolen etwas Schreckliches: Amerikanische Soldaten kommen an den Keller, in dem sich viele Leute aufhalten, nicht nur die Familie, auch Nachbarn und Flüchtlinge aus Grenzdörfern.Sohn des Müllers stirbt im Kugelhagel

Die Soldaten fordern die Leute auf, alle aus dem Keller heraus auf die Straße zu kommen. Sie stellen sich in einem großen Halbkreis auf, während amerikanische Soldaten den Keller durchsuchen. Noch immer rattern MGs vom Berg hinunter in die Straßen des Dorfes, und so auch in diese. Plötzlich sagt eine der Töchter der Familie Schmitt-Schwolen: "Mir ist eine Kugel durch mein Haar gegangen!" Und dann bricht ein 17-jähriger Junge, der Sohn des Müllers, Heinrich Hauer, der sich ebenfalls in diesem Keller aufhält, zusammen. Er ist von einem MG-Geschoss in den Bauch getroffen worden. Der amerikanische Soldat befiehlt allen, sich in den Keller zu begeben. Der Junge liegt auf der Straße; er wimmert: "Holt mich in den Keller!" Er kann sich selbst nicht helfen. Immer wieder gehen Geschosse in die Straße. Man wirft ihm einen Strick zu, er soll sich daran festhalten. Nein, auch das ist ihm nicht möglich. Er betet: "Heilige Maria, Mutter Gottes hilf,..... hilf!" Zuletzt gehen zwei Geschwister der Familie Schmitt, Paula und Josef, todesmutig hinaus und ziehen den schwer Verwundeten in den Keller. Noch in der folgenden Nacht stirbt er. Heinrich Ewen ist Pastor im Ruhestand. Der gebürtige Alsdorfer, Jahrgang 1932, lebt heute in Wittlich. In Bombogen und Lüxem war er zuletzt als Pfarrer aktiv.

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